Straßen im Kiez, die es nicht mehr gibt: Blumeshof

(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com)

Bunt wie ein Strauß Frühlingsblumen war der Blumeshof, gemessen an der Heterogenität seiner Bewohner in dieser verhältnismäßig kurzen Straße. Der Blumeshof, früher auch „Blumes Hof“ genannt und geschrieben, war zunächst eine Privatstraße zwischen der Villa Lützow (Lützowstraße 28) und der Stadtteilbibliothek (Lützowstraße 27) – sie begann am Schöneberger Ufer und endete an der Lützowstraße (Bild 1) und wurde nach dem Eigentümer des Geländes, dem Bankier Johann Carl Blume (1819-1875) so benannt. „Blume wünschte sich die Bezeichnung Lehniner Straße. Auf Befehl des Ministers für Handel etc. wurde durch Verfügung des königl. Polizeipräsidiums vom 26. Juni 1864 gestattet, die Straße ‚Blumeshof‘ zu nennen“ (1) – eine etwas ungewöhnliche Straßentaufe in Berlin, aber das ist hier nicht der Ort, das zu diskutieren. Es hatte vermutlich damit zu tun, dass bei Privatstraßen der Grundstückseigner für die Versorgung mit Wasser, Kanalisation etc. zuständig war und nicht die Stadt Berlin. Es gab den Blumeshof bis 1959, also noch einige Zeit nach dem 2. Weltkrieg, dann wurde die Straße „eingezogen“, wie es im Amtsdeutsch heißt.

Straßenkarten (Situationsplan) des Blumeshof in den Jahren 1910, 1938, 1951 und heute. (Quelle: http://histomapberlin.de/histomap/de/index.html der Beuth Hochschule für Technik, Berlin)

Eine schöne Beschreibung des Blumeshof um das Jahr 1850 entnehmen wir den Lebenserinnerungen von Ludwig Pietsch (1824-1911), einem Berliner Schriftsteller, der zu dieser Zeit in die gerade entstehende Schöneberger Vorstadt zog und darüber einen Erinnerungsroman geschrieben hatte unter dem Titel „Wie ich Schriftsteller wurde“ (2), eine Art von persönlichem „Who was Who im Lützowkiez“. Er wohnte für einige Zeit „Am Karlsbad“, da ging es der Familie schon finanziell besser, zuvor hatten sie eine Wohnung in der Innenstadt, die Pietsch, nicht unähnlich den Wohnungen Fontanes in dessen frühen Jahren (3), in den abschreckendsten Details schilderte, bevor die Familie in der Lietzower Wegstraße (der heutigen Lützowstraße) eine Wohnung fand, „in einem einstöckigen Gärtnerhause. Es lag der Mündung der heute ‚Blumes Hof` genannten Straße – damals ein buschiger und baumreicher Feldweg – gegenüber, als letztes, westlichstes der kurzen Reihe kleiner halb dörflicher Häuschen an dem ungepflasterten, tiefen Sandwege, der jenen Namen führte. Wie alle diese Häuschen war es umgeben von ausgedehnten Blumen- und Fruchtgärten, weiten Getreide- und Kartoffelfeldern. Drüben erhob sich das rote Gebäude der Jungbluthschen Wagenfabrik, welches die ganze Strecke zwischen Blumes Hof und der heutigen Magdeburger Straße einnahm. Statt der letzteren führte ein schmaler Fußweg von der Kanaluferstraße zwischen der Westseite dieser Fabrik und angrenzenden Getreidefeldern zur Lietzower Wegstraße hinüber und weiter über Felder und Kirschpflanzungen zu der Windmühle und den kleinen Gehöften an ´Blums Mühlenweg`, der heutigen Steglitzer Straße, und zu den Sanddünen und Kirschgärten des noch fast gänzlich unbebauten ´Jakobschen Weges`, der heutigen Kurfürstenstraße. Der Magdeburger Platz war ein Kartoffelacker…“ (2).

Den gleichen Weg, nur in die umgekehrte Richtung, ließ der Schriftsteller Alfred Schirokauer (1880-1934) Ferdinand Lassalle (1825-1864) eilen, auch der ein Bewohner des Viertels, in seinem Roman von 1912 „Ferdinand Lassalle: Ein Leben für die Freiheit und die Liebe“ (4). Lasalle war der Gründer der ersten sozialdemokratischen Parteiorganisation im deutschen Sprachraum, des 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, aus dem später die SPD hervorging. „Er suchte sich zurechtzufinden. Dort, weit hinten ragte aus der rauchigen Winterluft ein Bauernhaus. Er erkannte es wieder. Es stand auf dem »Alt Schöneberger Feld« (Heute Nollendorfplatz) …. Er machte kehrt und schritt rasch aus. Am Jacobschen Weg …, erkennbar an den schneegekrönten Sanddünen, eilte er vorbei, dort ragten auch schon gespenstisch in den Abend die Arme der Windmühle an »Blums Mühlenweg« …. So, nun war er gleich da. Er bog in die Lietzower Wegstraße ein, hastete über den schmalen verschneiten Feldrain, der vom Kanal zwischen den dunkelnden Gärten herüberlief, jetzt schritt er dahin am Zaune der Jungbluthschen Fabrik, wieder ein holpriger Feldweg ….“ (Kapitel IV) auf dem Wege zu einer abendlichen Einladung beim Verleger Carl Friedrich Wilhelm Duncker (1781-1869), bei der er möglicherweise auch die Familie Pietsch getroffen hätte – der wohnte nördlich des Landwehrkanals, Potsdamer Straße 20, Nachbar der Nicht-Brüder Kilian (mitteNdran vom 6.4.2021). Man kannte sich im Lützow-Kiez (der natürlich nicht so hieß: das war die Schöneberger Vorstadt, manchmal auch die Friedrichsvorstadt genannt). Schirokauer muss den Pietsch’schen Roman gelesen haben – immerhin war er, anders als Pietsch, nicht aus Berlin, sondern gebürtig aus Breslau, hatte in Hamburg studiert und emigrierte nach der Machtergreifung der Nazis nach Wien; so detaillierte Ortskenntnisse kann er also nicht gehabt haben!

Die bei Pietsch und Schirokauer erwähnte Firma Jungbluth hatte auf dem Gelände zwischen Blumeshof und Magdeburger Straße eine Fabrik und baute dort zwischen 1850 und 1863 Eisenbahnwaggons, sie war eine der ersten Berliner Firmen, die den Landwehrkanal überschritten und sich in der neuen Kolonie angesiedelt hatten – lange bevor diese nach Berlin eingemeindet wurde; dazu ein andermal mehr. Nachdem die Firma Jungbluth 1863 das Gelände an den Kaufmann Rothensee verkauft hatte, der dort eine Villa baute, ging das Grundstück 1864 an den Bankier Johann Carl Blume (1819-1875). Der legte den Privatweg an und verkaufte auf dem Gelände rechts und links Parzellen für Wohnhäuser – oder ließ selbst bauen und verkaufte dann; und dann bekam die Straße sogar richtige Hausnummern, und Mieter von repräsentativen Wohnungen in repräsentativen Häusern (Bild 2) – innerhalb von 50 Jahren nach Pietsch hat sich die Schöneberger Vorstadt gründlich verändert. Fontanes Blick 1889 hinüber zum Magdeburger Platz (s. mitteNdran vom 18.1.2021) ging vermutlich über das Jungbluth’sche Fabrikgelände, das da längst geräumt war.

Blumeshof 2, Wohngebäude, aufgenommen ca. 1912 (Quelle: Berlinisches Museum mit freundlicher Genehmigung, Fotograf: Karl Brandmann; gemeinfrei).

Im Jahr 1900 hatte der Blumeshof 17 Häuser mit 111 Mietern (Haushalten), dort wohnte die Großmutter von Walter Benjamin (Nr. 12), und eine Vielzahl von Prominenten, die aufzuzählen hier nicht der Platz ist. Über Walter Benjamin ist viel geschrieben worden und wenn man Blumeshof oder Blumes Hof googelt, kann man ihm gar nicht entkommen.

Die vielen anderen Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die hier ihre Heimat hatten und sie im Nationalsozialismus verloren, sollen eine eigene Geschichte bekommen. Und schließlich: Auch das Böse residierte im Blumeshof: Die Nationalsozialisten richteten im Blumeshof Nr. 4 – 6 die Reichskammer der Bildenden Künste (auch Reichskulturkammer) ein, die in den Jahren 1933 bis 1945 unzählige Berufsverbote verhängte und mit dem Verdikt „entartete Kunst“ viele Künstler ins Unglück stürzten.

Der Physiologe Isidor Rosenthal (1836-1915), Assistent von Emil Du Bois-Reymond (1818-1896), dem Leiter des Instituts für Physiologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität, wohnte nach seiner Heirat 1869 und bis zur Berufung nach Erlangen 1872 in dem Rothenseeschen Hause (Blumeshof 1). Am 4. April 1898 wurde im Blumeshof Nr. 9 die erste wissenschaftliche Sitzung der Röntgenvereinigung im sogenannten Medico-mechanischen Privatinstitut Immelmann abgehalten. Prof. Paul Magnus (1844-1914), Regierungsrat und Mitglied der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, wohnte zeitweilig im Blumeshof 15, ebenso der Ophthalmologe (Augenarzt und Wissenschaftler) Bernhard Pollack (1865-1925). Und im Haus Nr. 15 hatte sich 1900 der Sohn eines prominenten Arztes und Wissenschaftlers, vielleicht des prominentesten seiner Zeit, Prof. Rudolf Virchow (1821-1902) eingemietet. Der Vater war Leiter des Instituts für Pathologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität, Mitglied des Reichstags für die von ihm mitgegründete Zentrumspartei und Herausgeber der vielleicht wichtigsten Medizinzeitschrift seiner Zeit in Europa, Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin, die bis heute – inzwischen als Virchows Archiv – in über 450 Bänden erschienen ist. Er wohnte nicht weit von hier, in der Schellingstraße 10 (die dort verlief, wo heute die Einfahrt zum Tiergartentunnel ist), im sog. „Geheimratsviertel“. Sein Sohn Hans Virchow (1852-1940), selbst Professor der Anatomie an der Berliner Universität, zog 1900 in den Blumeshof 15, blieb dort aber nur wenige Jahre. Vater Virchow starb zwei Jahre später an den Spätfolgen eines Unfalls, den er beim Ausstieg aus einer elektrischen Straßenbahn erlitten hatte. Nur Stunden nach seinem Tod haben Mitarbeiter eine Bestandsaufnahme gemacht und das Foto dieses Schreibtisches (Bild 3) in der Wohnung seines Sohnes (Blumeshof 15) ist es, das Anlass gab für diese Erinnerung: In Kenntnis von und gemessen an der wissenschaftlichen Leistung Virchows bis ins hohe Alter bin ich zutiefst davon überzeugt, dass Virchow jedes einzelne Stück Papier auf diesem Schreibtisch kannte und zuzuordnen wusste. Vater Virchow wird uns noch einige Male begegnen im Lützow-Viertel.

Virchows Schreibtisch am Tage seines Todes (5. September 1902), aufgenommen von Mitarbeitern (Quelle: Berlinisches Museum mit freundlicher Genehmigung).

Aber was wurde aus dem Blumeshof, wann ist er verschwunden?

Nachdem seine jüdischen Bewohner vertrieben worden waren, nisteten sich im Blumeshof vermehrt staatliche oder staatsnahe Institutionen ein, weil sich der nationalsozialistische Staat auf der nördlichen Landwehrkanal-Seite breit machte („Germania“, der monströse Plan des Albert Speer warf seine Schatten voraus): aus schönen Wohnhäusern (gebaut ab 1865) wurden so Bürogebäude, wie 1912 das Haus der Rechtsanwälte an der Ecke Blumeshof-Schöneberger Ufer (Architekten: Schmieden & Boethke), in dem einige Jahre später (1918) der Verband der Flugindustrie (Aero-Club) einzog, der 1928 noch ein Stockwerk draufsetzte (Bild 4).

Wohnhaus Blumeshof 17 (gebaut um 1870) und das an gleicher Stelle 1911 gebaute Vereinshaus der Berliner Rechtsanwälte (später: Flugverbandshaus), dem 1926/7 noch eine Etage aufgesetzt wurde. (Quellen: links Fotograf Hugo Rudolphi, Berlinisches Museum mit freundlicher Genehmigung; rechts Postkarte ca. 1925, beide gemeinfrei)

Im letzten Adressbuch vor dem Kriegsende (1943) belegt der Hinweis „E = unbenannter Eigentümer“ (und nicht etwa: unbekannter Eigentümer) die jüdische Provenienz vieler Häuser im Blumeshof. Der Blumeshof behielt seinen Namen, aber 1935 wurde das Schöneberger Ufer in Großadmiral-von-Koester-Ufer umbenannt, ab 1947 wurde es wieder mit dem alten Namen belegt. Gleichzeitig wurde 1935 die Nummerierung geändert: mehr Hausnummern, vor allem im ersten Uferabschnitt zwischen Schöneberger Straße und Potsdamer Straße: aus Nr. 40 (Flugverbands-Haus) wurde so Nr. 75 (s. Bild 1).

Nach dem Krieg gab’s erst mal keine Adressbücher für einige Zeit, sondern nur die Branchenbücher, aber das Telefonsystem wurde schnell wieder aktiviert und wuchs in Windeseile, und somit auch das Telefonbuch: Im Blumeshof waren aber nur die Nr. 15 und 17 gelistet, und das bis 1961. Für das Finanzamt Tiergarten existierten zwar noch alle Hausnummern, und auch der städtische Reinigungsdienst säuberte noch die ganze Straße, aber bis auf die Häuser Nr. 15 und 17 gab’s gar keine Häuser mehr (s. Bild 1, 1951).

Im Abgeordnetenhaus von Berlin berichtet in der 15. Sitzung am 27. Mai 1959 Frau Ella Kay (1895-1988), die Senatorin (damals wurde sie noch mit „Frau Senator“ angesprochen) für Jugend und Sport, dass der Bund (die Bundesregierung in Bonn) „die Errichtung eines Jugendgästehauses in der Nähe des späteren Regierungsviertels (sic!), d.h. in die Nähe des Tiergartens“ wünsche. „Es soll also am Blumeshof gegenüber dem Shellhaus errichtet werden“ (5). Sie berichtet über finanzielle Probleme der Beschaffung (Enteignung) der dafür notwenigen Grundstücke, so wie auch das Elisabeth-Krankenhaus über den Erwerb eines größeren Grundstücks berichtet. Im Zuge dieser Aktion wird dann die Straße „eingezogen“. Dieses Jugendgästehaus hat heute die Adresse Kluckstraße 3 und steht unter Denkmalschutz – wir werden es ein andermal besuchen.

Der Name „Blumeshof“ überlebt dann noch eine Zeitlang mit dem „Hotel Blumeshof“, das zwischen 1966 und 1983 am Schöneberger Ufer 75 existiert, dem ehemaligen Haus der Flugindustrie (s. Bild 4). Hatte sich dies anfänglich noch als mit „200 Betten, modern, behaglich, ruhig“ angepriesen, so wurde es in der Folge zunehmend eine für die Stadt billige Unterkunft für Asylanten, die schließlich vom Deutschen Roten Kreuz übernommen und verwaltet wurde – darüber und über die schlechte Qualität der Unterbringung hatte mitteNdran in einer seiner ersten Ausgaben 2010 berichtet (6). Dort steht jetzt heute ein Verwaltungsgebäude des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – offenbar hatte sich der Bund hier gleichfalls einen Teil des Kuchens gesichert, auch wenn das BMFSFJ nicht gerade „um die Ecke“ ist, sondern in der Glinkastraße 24.

Literatur

  1. Hermann Vogt. Die Straßen-Namen Berlins. Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins. Berlin, Verlag des Vereins für die Geschichte Berlins 1885
  1. Ludwig Pietsch: Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens. (Erstauflagen 1893/94, 2 Bände, Fontane Verlag Berlin) Berlin, Aufbau-Verlag (Neuauflage) 1989
  2. Hans-Werner Klünner: Fontanes Berliner Wohnstätten. In: Theodor Fontane. Wie man so lebt in Berlin. Beobachtungen und Betrachtungen aus der Hauptstadt. Herausgegeben von Gotthard Erler. Aufbau-Verlag, Berlin, 2019 (2.Auflage), S. 221-259
  3. Alfred Schirokauer: Ferdinand Lassalle – ein Leben für die Freiheit und Liebe. Berlin. R.Bong Verlag 1912
  4. Stenographischer Bericht der 15. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses vom 27. Mai 1959; S. 199f
  5. mitteNdran 2010, Heft 3 (November), S. 14: „Hotel“ wird zum Asylheim.

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