Straßen im Kiez (26): Otto Wuttke in der Derfflingerstraße
(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com)
Baumeister oder Architekt – wer ist besser, was zählt mehr? Hinter dieser simplen Frage steckt ein altes Problem, das des Unterschieds zwischen Handwerk einerseits und akademischer Ausbildung andererseits, zwischen Ingenieuren und Doktoren; und natürlich ging der Trend bereits im 19. Jahrhundert zur Akademie, die zugegebenermaßen in Berlin auch eine große Tradition hatte, angefangen mit Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) und der königlichen Bauakademie von 1799 (1). Baumeister wie Otto Wuttke hatten demgegenüber eine eher technisch-handwerkliche Ausbildung – auch Maurermeister wie Bimmel-Bolle nannten sich gelegentlich Baumeister. Bei der Besichtigung des Architektenvereins auf den Baustellen des Kielgan-Wuttke-Viertels (mittendran.de vom 14. Februar 2021) spürt man diese akademische Überlegenheit (um nicht zu sagen Arroganz) gegenüber dem Nur-Baumeister Wuttke überdeutlich. Und so nimmt es kein Wunder, dass über Otto Wuttke in den meisten Büchern zur Berliner Architektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts kein Wort verloren wird, und wenn doch (2), wenig Positives. Nachdem wir oben die Derfflingerstrasse rehabilitiert hatten, ist nun Otto Wuttke dran, der Baumeister der Villa Maltzahn in der Derfflingerstrasse.
Da in allen Dokumenten (Büchern, Artikeln) schon die simpelsten Informationen fehlen, erst mal ein wenig Biographisches: Otto Hugo Eduard Wuttke wurde 1832 (genauer geht’s im Moment nicht) in Gleiwitz (nahe der heutigen polnischen Grenze im Südosten der Republik) geboren. Er war der Sohn des königlichen Bohrmeisters Gottlieb (oder Gottlob) Wuttke in der dortigen königlichen Eisengießerei, einem der ältesten industriellen Staatsunternehmen Preußens (seit 1797) (3). Vermutlich ist er dort zur Realschule gegangen, möglicherweise auch zum Gymnasium, aber wo er seine berufliche Ausbildung gemacht hat, ist bislang nicht bekannt.
Einiges spricht dafür, dass er diese in Berlin gemacht hat: Er heiratete am 16. Juni 1856 in Berlin in der Jerusalemkirche die Jungfrau Maria Therese Augusta Emphinger (1827-1911) aus Berlin, die 5 Jahre älter war als er. Im Kirchenbuch ist seine Adresse Jerusalemstraße 3; dort wohnte die Witwe Emphinger. Deren Mann, der Ingenieur/Geograf und Leutnant im Generalstab Joseph Eduard Friedrich Emphinger war verstorben, ebenso wie Wuttkes Eltern. Zwei Möglichkeiten gibt es: entweder hatte er an der 1799 gegründeten Bauakademie, der Eliteeinrichtung aller Architekten, das Bauen gelernt, oder er war (was wahrscheinlicher ist) an dem 1821 gegründeten königlichen technischen Institut (ab 1827 Königliches Gewerbe-Institut, ab 1866 in Königliche Gewerbeakademie, ab 1860 war für den Eintritt ein Abitur Voraussetzung) (1) (Bild 1). Leider gibt es für beide Institutionen aus diesen frühen Jahren keine Studentenverzeichnisse (Matrikel) mehr.
Im Adressbuch von Berlin finden wir Otto Wuttke erstmals in der Ausgabe für 1860; da wohnte er in der Oranienstraße 128, ab 1861 in der Potsdamer Straße 18 im Tiergarten, gleichzeitig hatte er sein Büro am Schöneberger Ufer 17 bzw. 18. In den Jahren 1867 und 1868 wohnte er, immer noch Baumeister, Potsdamer Straße Nr. 22 (im früheren Haus von G.F.Kilian, das er übernommen hatte) – dort baute er 1870/71 neu und vermietete, zog selbst in die Potsdamer Str. 131 (Ecke Leipziger Platz 18, Eingang Schulgartenstraße), bevor er 1873 in seine eigene Villa auf dem Kielgan-Gelände zog, Nollendorfplatz 3. Hier blieb er für die nächsten 15 Jahre wohnen, aber erst ab 1886 nannte er sich Architekt. Nach 1891 war die Villa Wuttke Eigentum des Kaufmanns Poppe, und Otto Wuttke war an den Stadtrand, in die eigenständige Landgemeinde Zehlendorf, Gartenstraße 2, verzogen, eine Nummer kleiner als seine Villenarchitektur. Ob Wuttke im Zuge des „Börsen- und Gründungsschwindels“ (4) in den 20 Jahren nach der Reichsgründung 1871 in Zahlungsschwierigkeiten geriet, wie der Stadtbaumeister Carl Schwatlo (1831-1884), ist möglich, aber nicht belegt.
Wenn die Wuttkes versucht hatten, Kinder zu bekommen, so war dies erfolglos: im März 1863 starb ein Kind nach 10 Tagen und noch vor der Taufe, und inzwischen war Maria Wuttke 36 Jahre alt. In den Kirchenbüchern der zuständigen Kirchgemeinde wurde bis 1874 kein weiterer Geburts- oder Sterbefall registriert, ab 1874 regelte das neue Personenstandsrecht die Registrierung im Standesamt, ebenfalls ohne Ergebnis. Otto Wuttke verstarb am 26. Juni 1901 nachmittags in seinem Haus, er wurde 69 Jahre alt. Seine Frau zog unmittelbar danach aus der Gartenstraße aus – sie starb 10 Jahre später, im Juli 1911, im Alter von 84 Jahren in Schöneberg (Hauptstraße 22).
Beruflich hat Otto Wuttke wenig an Gebäuden hinterlassen, was die Zeit überdauert hat. Was heute oftmals fälschlicherweise als Villa Wuttke bezeichnet wird, ist die erhaltene Maltzahn-Villa in der Derfflingerstraße 8 (Bild 2), die vor dem Krieg noch die Nr. 9 hatte, heute auf dem Gelände des französischen Gymnasiums (École Français) steht und deren Bibliothek beherbergt. Sie war Teil des Kielgan-Wuttke-Villenareals und wurde in den Jahren 1872- 73 für den Rittergutsbesitzer und Reichstagsabgeordneten Baron Helmuth von Maltzahn- Gültz (1840-1923) gebaut, der darin bis 1893 wohnte, bevor er wieder gen Heimat zog (5). Von Wuttkes eigener Villa am Nollendorfplatz 3 gibt es keine Bilder – sie wurde bald nach seinem Auszug abgerissen, die Umgebung des Nollendorfplatzes entwickelte sich zum Zentrum eines Vergnügungsviertels, da waren Villen fehl am Platz, noch dazu mit dem Platzbedarf, den die Kielgan-/Wuttke-Villen allesamt vorgesehen hatten, 1000 bis 1500 qm je Villa.
Neben dem Bau des Hauses Potsdamer Straße 22 und der Gesamtplanung für das Kielgan’sche Areal, auch wenn Wuttke nicht alle Villen selbst geplant und gebaut hat, ist von Otto Wuttke ein weiterer Plan für ein Villenterrain überliefert, der sog. Villenplan Maihöhe des Buchhändlers Emanuel Mai in Steglitz, den Wuttke gemeinsam mit dem Architekten H. Enders 1872 entworfen hatte, der aber nie realisiert wurde. Hingegen hat Otto Wuttke im Jahr 1877 „die wohl großartigste Villenarchitektur Baden-Badens“ geplant und gebaut, ausweislich eines Kulturdenkmal-Führers für Baden-Baden: „Die innen und außen opulent ausgestattete Villa der Gründerzeit mit ebenbürtigen Erneuerungen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, zu deren Reichtum es in Baden-Baden kaum ein vergleichbares Beispiel gibt, erinnert in ihren eindrucksvoll modellierten Fassaden … an Herrensitze aus der oberitalienischen Seenlandschaft“ (5) (Bild 3).
Berichte über den eindrucksvollen Garten dieser Villa gibt es auch heute noch (7), und das Stadtarchiv Baden-Baden verwahrt einiges historisches Bildmaterial, wobei der aktuelle Zustand der Villa von den gegenwärtigen Besitzern veranlasst wurde. Gebaut wurde die Villa für den Berliner Chemiker, Ökonom und Politiker, Geheimrat Dr. Friedrich Wilhelm Lüdersdorf (1801-1886), der 1882 in den Adelsstand erhoben wurde und sich fortan von Lüdersdorff nennen durfte. Er hatte 1858 das Rittergut Weißensee von seinem Onkel geerbt und es 1872 für viel Geld (700.000 Taler) an einen Hamburger Bodenspekulanten verkauft, war aber auch durch seine eigenen Forschungen und Erfindungen in der Biologie (die Lüdersdorffsche Dampflampe, in der Kautschukverarbeitung) reich geworden. Er schied 1874 aus dem Preußischen Staatsdienst im Landwirtschaftsministerium aus und zog nach Baden-Baden, und beauftragte offenbar Otto Wuttke, ihm diese Villa auf dem Gelände des früheren „Jesuitenschlößchens“ zu bauen; die Villa wurde nach Fertigstellung im Adressbuch von Baden-Baden als „Villa Waldschloß“ bezeichnet. Der Baugrund dort hatte eine lange Vorgeschichte, die hier zu erzählen viel zu weit führen würde, die aber nachzulesen spannend ist (8). Den Baden-Badener Auftrag hätten die hämischen Berliner Architekten vermutlich alle gerne gehabt, bei aller Geringschätzung der Wuttkeschen Architektur.
Den hätten sie vermutlich auch haben können, immerhin musste Wuttke den Bauherrn aus Berlin gekannt haben, oder der Bauherr ihn: er hatte für die Familie von Luedersdorff (manchmal auch mit „ü“ und/oder mit einem „f“ am Ende geschrieben) 1873 auch im Kielgan-Wuttke-Viertel eine Villa gebaut (Bild 4), die zunächst vermietet, dann aber vom Sohn des Geadelten und seiner Frau nach dem Tod des Vaters bezogen wurde (9) – der Zeit seines Lebens ein Rentier war, also jemand, der nicht für sein Geld arbeiten musste. Peter Zech, ein Nachkomme in der 5. Generation des von Luedersdorff, in einer Mail an uns: „Die Villa in Baden Baden bewohnte in Wirklichkeit Friedrich Wilhelm Luedersdorff nur eine gewisse Zeit. Vor allem bewohnte sie sein Sohn mit Familie. Man muß immer bedenken dass er bereits schon ziemlich alt war. Er wohnte dann allein mit einem Diener in der Stadt, während sich die Familie seines Sohnes sich gern luxuriös in der Öffentlichkeit präsentierte, was ihm, der unnötigen Luxus ablehnte, wohl kaum gefallen haben mag“. Ausweislich des Adressbuches wohnte Sohnemann zunächst in der Kurfürstenstraße 131 zur Miete, ab 1890 in seiner Villa Kurfürstenstraße 133, wo er 1902 verstarb; seine Witwe lebte dort noch weitere 15 Jahre (bis 1917), dann vermietete der neue Besitzer (Deitschmann) die Villa an das polnische Konsulat (1919-1920), bevor dieses 1923 die Kiliansche Villa Kurfürstenstraße 136-137 von der Witwe Gabcke übernahm und dort bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs (1939) blieb. Das Gebäude, das heute auf dem Gelände der Villa Luedersdorff steht und der freikirchlichen Lukas-Gemeinde dient, erinnert in einigen Aspekten an die alte Architektur. Dass es sich um einen Umbau handelt und das Original den Krieg überstanden hatte, belegt das Foto des geräumten Geländes der Gebäude Kurfürstenstraße 134 bis 137 aus dem Jahr 1968 (Bild 4, rechts).
Auch ein weiteres Detail aus Wuttkes Biographie ist bisher nicht systematisch aufgearbeitet worden: Otto Wuttke hatte 1873 unter anderem ein Patent mit der Nr. 24879 (9738) für ein Luftventil, ein „Kombiniertes Pulsions- und Aspirations-System zur Lüftung von Gebäuden“ (Patentklasse 27/24) angemeldet, das er in einem Aufsatz von 1884 erläutert (10). Der Artikel verweist auch auf ein Versuchslabor (Haus) in Steglitz, in dem er die Technik entwickelt, möglicherweise handelt es sich um das Haus, in dem er ab 1891 selbst wohnte.
Weit mehr als in seinen Gebäuden wird dieses Patent in den folgenden 30 Jahren vor allem in öffentlichen Gebäuden technisch um- und eingesetzt, in Schulen, Lazaretten, Gefängnissen etc.; es wird auch auf Hygiene-Ausstellungen (1883) (Bild 5), in ingenieur-wissenschaftlichen Gesundheitsjournalen (1880, 1881, 1906) und sogar im Brockhaus (1886) gezeigt und diskutiert. Anders als die Architekten hatten die Ingenieure offenbar wenig Berührungsängste mit dem Baumeister, der hier technische Kompetenz demonstriert. Das belegt auch indirekt die Anzeige im Katalog der Hygiene-Ausstellung Berlin 1883 (Bild 5): Wuttke verweist als Referenz für sein Ventil auf die Firma Rietschel & Henneberg, Berlin. Hermann Rietschel (1847-1914) war Professor für Ventilation und Heizung an der Königlichen Technischen Hochschule Berlin, das Rietschel-Institut für Lüftungstechnik existiert noch heute und unter diesem Namen – möglicherweise lassen sich in den Archiven dieses Instituts noch Spuren von Otto Wuttkes Ventilationstechnik entdecken.
Literatur
1: Hans Joachim Wefeld. Ingenieure aus Berlin. 300 Jahre technisches Schulwesen. Berlin, Haude & Spener Verlag 1988.
2: Hartwig Schmidt. Das Tiergartenviertel. Baugeschichte eines Berliner Villenviertels. Teil I: 1790-1870. Berlin, Gebr. Mann Verlag 1981
3: https://de.wikipedia.org/wiki/Königlich_Preußische_Eisengießerei
4: Otto Glagau. Der Börsen- und Gründungsschwindel in Deutschland. Leipzig, Verlag von Paul Frohberg 1877
5: https://www.berlin.de/landesdenkmalamt/denkmale/liste-karte- datenbank/denkmaldatenbank/daobj.php?obj_dok_nr=09050418
6: Kunst- und Kulturdenkmale im Landkreis Rastatt und in Baden-Baden. Hrg. Vom Landkreis Rastatt und der Stadt Baden-Baden. Stuttgart, Konrad Theiss Verlag 2002.
7: https://www.baden-baden.tv/Baden-Baden/Video/2012/06/08/Rendez-Vous-aux-Jardins- 2012-praechtiger-Privatpark-der-Villa-Waldschloss-Baden-Baden-war-fuer-Besucher- geoeffnet1339145128.htm
8: Lore Gauges. Neues vom ehemaligen Jesuitenschlößchen. In: Beiträge zur Geschichte der Stadt und des Kurortes Baden-Baden, Hrg. Arbeitskreis für Stadtgeschichte Baden-Baden 1993, Band 26, S.15-19; in diesem Artikel wird die Villa fälschlicherweise als ehemaliges Jesuitenschlößchen bezeichnet, wenngleich sie nur auf dessen Grund stand; im
9: Peter Zech. Friedrich Wilhelm von Luedersdorff. Band 1: Familiengeschichte. Leipzig, Engelsdorfer Verlag 2016
10: Otto Wuttke. Erläuterungen zu meinem Ventilationssystem. In: Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen. Neue Folge, IX. Band, 1884, S.323-336