Schneller geht sozialer Aufstieg kaum: Der Großvater noch ein „Arbeitsmann“, d.h. ein Hilfsarbeiter ohne Berufsausbildung in Stettin, dessen Sohn erst Kanzleidiener, dann Kanzlei-Sekretär bei der Staatsregierung in Potsdam, und dessen Sohn wiederum Unternehmer mit einem Produkt, das er genial vermarktete und das ihn bis zum zweiten Weltkrieg zum Weltmarktführer machte. Und das Ganze passierte am Rande des Lützow-Viertels, in der Blumenthalstraße.
Die Herkunftsfamilie: Von Stettin nach Potsdam
Der Großvater unseres Protagonisten war Christian Friedrich Ring aus Stettin, geboren um 1775, der am 12. Mai 1808 die 22-jährige Anna Regine Matz aus Pommern geheiratet hatte.
Sein Sohn Heinrich Julius Herrmann heiratete mit 30 Jahren am 28. Juni 1851 Johanna Catharina Hütte aus Herford, geboren am 14. Oktober 1829; Tochter des dortigen Gastwirtes Christian Ludwig Hütte und seiner Ehefrau Anna Margarethe, geborene Müller. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits nach Potsdam verzogen und „Geheimer Kanzleidiener“ bei der Oberrechnungskammer am Preußischen Hof. Sie hatten zwischen 1851 und 1859 vier Kinder: Heinrich (*1852), Otto (*1853), Alma (*1854) und Adolf (*1857). Ein Jahr später war der Vater bereits Kanzleisekretär bei der Rechnungskammer der Staatsregierung.
Otto, der Kaufmann und Unternehmer
Wir wissen nicht, wo Otto Ring seine Jugend verbracht hat und wo er zum Kaufmann ausgebildet wurde – er taucht erstmals im Adressbuch von Berlin im Jahr 1879 auf: als Inhaber einer „Fabrik für chemisch-technische Spezialitäten“, Adresse: Firma Otto Ring & Co, Bülowstraße 71. Ein Jahr zuvor war die Firma in das Handelsregister eingetragen worden (Nr. 15642), ab dem Jahr 1880 war die Firmenadresse bereits Blumenthalstraße 17 (1).
Seine erste „Spezialität“ war offenbar „ein Fleckenwasser (Immaculus) (Bild 1), das nicht besonders erfolgreich war“ (2), aber der Durchbruch kam bald mit der Erfindung eines Fischleims, der, wenngleich nicht gut riechend, offenbar sehr effizient war und alles klebte, was des Klebens bedurfte (Bild 2): Er nannte ihn Syndetikon.
Das genaue Rezept des Fischleims ist nicht überliefert, es war vermutlich ein Firmengeheimnis und wurde wohl patentiert, aber vermutlich wurde der Name Syndetikon nicht geschützt (s. unten). Dennoch machte er innerhalb kürzester Zeit Weltkarriere und aus einem ebenso einfachen wie genialen, weil seiner Zeit vorauseilendem Grund: Werbung!
Waren die ersten Plakatentwürfe für Syndetikon noch konventionell (s. Bild 2), so entstand nach kurzer Zeit bereits das dann durchweg verwendete Motto „Syndetikon klebt, leimt, kittet alles“, die Vermarktung erfolgte im In- und Ausland mittels künstlerisch gestalteter Plakate noch unbekannter Berliner Kunststudenten, die sich in den folgenden Jahren einen Namen machen sollten, und mit witzigem, oft ironischem Inhalt: Syndetikon kittet alles, auch gebrochene Herzen!
Die Firma Otto Ring & Co. stellte 1896 auf der großen Berliner Gewerbeausstellung im Saal der Chemischen Industrie aus. Im gleichen Jahr (am 4. April 1896) registrierte das Königliche Amtsgericht Berlin II unter der Nr. 2926 im Firmenregister den Umzug der Firma nach Steglitz/Friedenau (4) (Bild 3), während der Wohnsitz von Otto Ring die Blumenthalstraße blieb.
Werbung, Werbung, Werbung!
Otto Ring engagierte dafür etwa ab dem Jahr 1900 eine Firma (heute würde man Start-up sagen), die sich auf moderne Druck-Reklame (Plakate u.a.m.) spezialisiert hatte. Eine Gruppe von gerade von der „Unterrichtsanstalt am Königlichen Kunstgewerbe-Museum zu Berlin“ examinierten Studenten gründete Oktober 1900 in einer Steglitzer Dachkammer und mit einer gebrauchten Steindruckpresse die „Steglitzer Werkstatt“. Einer der Gründer, Fritz Helmuth Ehmcke, erinnert sich 1920 (5), dass Otto Ring, den sie „den guten Onkel Ring“ nannten, ihr regelmäßiger Auftraggeber „von epochemachender Bedeutung“ wurde. Dem ersten Auftrag (Bild 4) folgten viele andere. „Er war auch immer mit Rat und Tat zur Stelle, tröstete in Nöten, ermunterte, wenn uns Zweifel kamen und hatte allezeit eine offene Hand. Er gab immer unter Vorbehalt, vertrat dabei den Grundsatz, daß jeder Hilfe eine Gegenleistung entsprechen müßte und erzog damit auf seine Weise. Rückblickend möchte ich ihm so recht die Rolle des wohlwollenden Gönners und Schutzpatrons unserer Gemeinschaft zusprechen.“ (5).
Aber Plakate (Bild 5), Anzeigen und Reklamemarken (Bild 6) heute bekannter Künstler, z.B. August Hajduk (6), die auf reguläre Briefe geklebt wurden, waren nur eines der Standbeine der Vermarktung von Syndetikon. Genial war auch, das in vielen Geschäften bereitgestellte Einwickelpapier mit Syndetikon-Werbung zu bedrucken. Andere Maßnahmen betrafen spezielle Zielgruppen, z.B. Kinder und deren Eltern, durch Bastel- und Bauspiele, die den Klebstoff benötigten (Bild 7). Und es gab Hommage durch die Kunst: Kurt Schwitters (1887-1948) Bild „Für meinen lieben Syndetikon“ für seinen Malerfreund Raoul Hausmann (1886-1971), der sich auch Syndetikon nannte; die Unterhaltungsschriftstellerin Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem (1854-1941) in ihrer Humoreske „Syndetikon“ in der Sammlung „Komtesse Käthe“ über einen „geleimten“ Liebhaber; und der Schwedische Forschungsreisende Sven Hedin (1865-1952) in seinem Reisebericht „Abenteuer in Tibet“, wo der Leim noch bei Temperaturen funktionierte, bei denen alles Andere versagte (7).
Der Patriarch Otto Ring
Innerhalb seiner Firma, und vermutlich auch in der Familie (s. unten), war Otto Ring ein Patriarch alten Stiles, wie sich schon in dem Zitat oben andeutet. Dies zeigt sich auch in der Arbeitsordnung, die in der Firma galt (Bild 8), und in den dokumentierten Festreden und Gratulationen zu Firmenjubiläen, die in Archiven zu finden sind (8). Nicht zuletzt ist dies auch belegbar durch die keineswegs übliche Gründung einer „Stiftung Syndetikon“ (9) im Jahre 1920, die erst 1958 aufgelöst wurde (10). Deren primärer Zweck war die Einrichtung und Unterhaltung eines Ferienheimes, das für bedürftige Firmenangehörige zur kostenlosen Nutzung für einen Erholungsurlaub zur Verfügung stehen sollte. Dafür stellte der Stifter einen Betrag von 50.000 Mark bereit und versprach den Bau eines Erholungsheims auf eigenem Grund und Boden in Berlin-Kladow, das den Namen „Erholungsheim Syndetikon“ tragen sollte. Aufgrund der Superinflation des Jahres 1923 war die Geldeinlage allerdings wertlos geworden und der Bau des Erholungsheims war nicht realisiert worden. Deswegen wurde in einer Satzungsänderung 1927 die Geldeinlage erneuert und die Einrichtung eines Erholungsheims durch Geldzusagen zwecks Erholung an bedürftige Firmenangehörige ersetzt (9).
Otto Ring, der 1884 in der Blumenthalstraße 18 wohnte (Bild 9), heiratete am 21. Oktober 1884 in Berlin Marie Ida Adele Paesler, geboren am 30. März 1865. Sie war die 19-jährige Tochter des Zimmermanns Eduard Wilhelm Paesler und dessen Ehefrau erster Ehe Marie Therese Ida, geborene Graf, und wohnte mit ihren Eltern nebenan, Blumenthalstraße 17; ihnen gehörte das Haus. Die Nr. 18 nebenan gehörte seinem Bruder Julius Paesler, seines Zeichens Bauunternehmer.
Zwischen 1889 und 1895 wurden drei Kinder geboren: Otto Eduard Heinrich, geboren am 13. November 1886, Elisabeth Johanna Maria, geboren am 8. Oktober 1889, und Werner Adolf Paul, geboren am 26. Dezember 1895. Über Otto Eduard und Werner Adolf lassen sich keine weiteren Informationen finden, so dass wir davon ausgehen müssen, dass sie möglicherweise im ersten Weltkrieg 1914-1918 verstorben sind: Sie waren bei Kriegsausbruch erst 28 bzw. 18 Jahre alt. Im Jahr 1920 jedenfalls wurde im Rahmen einer notariellen Beurkundung vermerkt, dass beide verstorben seien.
Die nächste Generation
Elisabeth blieb der Firma ihres Vaters verbunden – sie erbte sie auch: Sie trat am 31. März 1922 als persönlich haftende Gesellschafterin in die seit dem 1. Januar 1922 als offene Handelsgesellschaft registrierte Firma Otto Ring & Co. ein, auch wenn Otto Ring allein zur Vertretung der Gesellschaft berechtigt blieb (11). Sie hatte in erster Ehe am 5. April 1913 den Assistenzarzt Dr. Konrad Eugen Reinhard Hiltmann geheiratet, der am 11. Mai 1886 in Frankfurt/Oder geboren wurde und zum Zeitpunkt der Hochzeit in Hameln (bei Hannover) wohnte, während Elisabeth als Wohnsitz Friedenau, Fregestraße 51 angab, den Standort der Firma. Aus dieser Ehe stammen zwei Kinder, geboren 1916 und 1918 – deren Daten unterliegen noch dem Datenschutz. Ihr Mann starb bereits im Alter von 36 Jahren am 28. September 1922.
Danach heiratete Elisabeth Ring am 24. März 1926 den Kaufmann und Doktor der Philosophie Heinrich Paul Albert Ritzenfeld, geboren am 2. Oktober 1882 in Berlin und wohnhaft in Berlin-Schöneberg (Hauptstraße 83). Der Ehemann, 7 Jahre älter als seine Frau, trat als Prokurist in die Firma ein. Er starb am 5. Dezember 1945 im Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Schöneberg, während seine Frau im Juli 1962 nach Müllheim im Markgräflerland (Breisgau) umzog. Dort verstarb sie am 17. August 1976 im Elisabethenheim (Hauptstraße 149) und hinterließ drei im Jahr 1976 noch lebende Kinder – darunter ein Sohn, geboren 1926, aus der zweiten Ehe, dessen weitere Daten ebenfalls noch dem Datenschutz unterliegen.
Zum 25. Firmenjubiläum (1913) war der Patriarch schon aus der Firma ausgeschieden und lebte offenbar in Potsdam (Roonstrasse 3; 1920: Kurfürstenstraße 32). Seine Frau Ida geborene Paesler starb am 30. Juni 1930 in Berlin-Kladow im „Landhaus Ring“ im Alter von 65 Jahren. Als Otto Ring am 17. Dezember 1937 im Alter von 84 Jahren starb, wohnte er wieder in der Blumenthalstraße 17. Er hatte wenige Jahre zuvor ein zweites Mal geheiratet, sein Tod wurde durch seine (zweite) Ehefrau Theodora geborene Schnack angezeigt.
Über Patentschutz und Namensrechte
Forscht man nach einer Rezeptur, muss man auch heute noch lange suchen: Wir fanden eine von 1888 in der Süddeutschen Apotheker-Zeitung (12), aber die berief sich auf eine österreichische Quelle (13), und dort war der Name nicht geschützt und wurde für eine andere Herstellung verwendet – und die Werbung gleich kopiert (Bild 10). Offenbar wurde das originale Syndetikon-Rezept geheim gehalten, auch wenn es bereits früh Nachahmer-Produkte gab. Ein Namensschutzrecht gab es in Deutschland zum Zeitpunkt der Erfindung Syndetikon 1878 noch nicht. Zwar gab es Markenschutz in Deutschland seit dem 30. November 1874, aber das ließ nur gezeichnete (figürliche) Markenzeichen zu und keine Markennamen, die ausschließlich aus Buchstaben/Namen bestanden, wie z.B. Syndetikon. Erst das „Gesetz zum Schutz von Warenbezeichnungen“ vom 12. Mai 1894 erlaubte dies. Im Jahr 1894 registrierte Otto Ring Syndetikon als eine neue Marke unter diesem neuen Gesetz (14).
Von Syndetikon zu Uhu – und was wurde aus Syndetikon?
Der Apotheker August Fischer erfand 1932 in Brühl UHU, einen synthetischen Kleber aus Kunstharzen (15), der deutlich besser roch und klebte und der die Weltmarktrolle von Syndetikon übernahm – selbst die erste Werbung wurde von Syndetikon inspiriert.
Den 2. Weltkrieg überstand die Firma Otto Ring in Friedenau ebenso wie die Wohnhäuser in der Blumenthalstraße (s. oben, Bild 9). Am 1. Januar 1961 übernahm der Kaufmann Hein Ruck aus Hamburg die Firma mit Einlagen von 20.000 DM von den Erben. Die Prokura für Ursula Hiltmann, vermutlich eine Tochter von Elisabeth Hiltmann, blieb jedoch noch bestehen, und der Sitz der Firma war in Steglitz, Stindestraße 35 in der Privatwohnung der Ursula Hiltmann. Am 6. August 1979 wurde der Sitz der Firma jedoch nach Hamburg verlegt (Handelsregister Hamburg Nr. 76518), und Im Jahr 2000, nach dem Tod von Hein Ruck, wurde die Firma Otto Ring & Co. Hamburg im Handelsregister gelöscht.
Aber Syndetikon wird noch heute in der Diamantenindustrie zur Fixierung von Diamanten bei der Bearbeitung mit Lasern verwenden (17), wo es offenbar auf seine inneren, technischen und nicht seine olfaktorischen Qualitäten ankommt.
Literatur
- Berliner Börsen-Zeitung vom 2. März 1885, V. Beilage, Nr. 102, Seite 1.
- Klaus Popitz: Syndetikon. Eine kleine Firma macht große Reklame. Begleittext zur Ausstellung. Veröffentlichungen der Kunstbibliothek Berlin 1878.
- Katrin Cura: Vom Hautleim zum Universalklebstoff. Zur Entwicklung der Klebstoffe. Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik, Diepholz/Stuttgart/Berlin 2010.
- Berliner Börsenzeitung Nr. 166 vom 9. April 1896, Seite 10.
- Fritz Helmuth Ehmcke: Bahnbrecher der deutschen Plakatkunst. 8. Die Steglitzer Werkstatt. Das Plakat, April 19020, Seite 179-183,
- https://de.wikipedia.org/wiki/August_Hajduk
- https://www.meisterdrucke.com/kunstdrucke/Kurt-Schwitters/686599/für-meinen-lieben-Syndetikon.html
- Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin Inventar-Nr. 1977,50.
- Landesarchiv Berlin (LAB), Akte A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 17651.
- Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Akte 203 AVE 254.
- Berliner Börsen-Zeitung Nr. 166 vom 7. April 1933, Seite 3.
- Süddeutsche Apotheker-Zeitung, Jahrgang 29, 1888, Nr. 38, Seite 2
- Adolf Vomacka: Haus-Spezialitäten. A.Bartleben´s Verlag, Wien/Leipzig 1904, S. 191-194.
- Karolina M. Pekala: Zur Entwicklung des Markenrechts. In: Markenpiraterie. Reihe Rechtswissenschaft, Vol. 220. Centaurus Verlag & Media, Herbolzheim 2013, S. 47-58.
- Karl-Heinz Zenz: UHU Story. Heimatbuch 1982 des Landkreises Rastatt. Greisler-Druck, Rastatt 1982, S. 147-163.
- Berlin-Brandenburgisches Wirtschaftsarchiv, Akte K 1/1 7078.
- Krystyna Jedraszak: Spezialkleber von Bettonville für die Diamantbearbeitung. dihw Magazin 2, 2010, S. 10-11.
Sie haben recht, das Plakat von Schultz-Wettel ist sehr schön, ich hatte es nur nicht in der richtigen Auflösung (jetzt hab ich es – danke für den Link), und baue es noch ein -PE
Toller Artikel von Herrn Enck- wie eigentlich immer. Das vielleicht schönste Plakat für Syndetikon schon aus 1899 von Fernand Schultz-Wettel fehlt allerdings leider in Ihrer Auflistung:
https://poster-auctioneer.com/en/auction_history/view_auction_history/Schulz-Wettel-F-Syndetikon-212001