Schulen im Lützow-Viertel (4): Die Charlottenschule in der Steglitzer Straße

Gleichzeitig mit der Gründung des Falk-Realgymnasiums 1870 wurde über die Einrichtung einer (vierten) höheren Mädchenschule in der Schöneberger Vorstadt entschieden, „inmitten eines schönen und reichen, aber in seiner Ausstattung mit öffentlichen Unterrichtsanstalten hinter den meisten anderen zurückstehenden Stadtteils“ (1). Die Gründung der allerersten höheren Schule für Mädchen lag da zwar schon einige Jahre zurück: das spätere Luisen-Lyzeum in der Ziegelstraße 12 war bereits 1838 als Luisenschule in der Oranienburgerstraße 69 gegründet worden. Aber erst 1875 erfolgte die Anerkennung als Höhere Schule. In der Zeit bis dahin war Mädchenbildung länger noch als die Schulbildung von Jungen eine Privatangelegenheit. Das Victoria-Lyceum der Georgina Archer (1827-1882) in der Potsdamer Straße 39 (heute 98A) war noch bis 1893 eine der wenigen Möglichkeiten für Mädchen, sich akademisch zu bilden (mittendran vom 18. Mai 2024).  Dies wird auch deutlich bei der Einrichtung der Charlottenschule: „Um die umliegenden Privatschulen nicht so sehr zu schädigen [weil diese auf die Schulgebühren angewiesen waren, PE]. wurden Ostern 1880 nur 6 neue Klassen eröffnet, und erst Michaelis [Herbst, PE] 1880 schritt man zur Eröffnung der beiden noch übrigen Klassen II und I“ (1). Aber auch öffentliche Schulen – und nicht nur Privatschulen – erhoben Unterrichtsgeld, allerdings betrug dies an der Charlottenschule „nur“ 25 Mark/Vierteljahr, also 100 Mark im Jahr, was einer Kaufkraft von 750 Euro heute entsprach.

Das Grundstück der Charlottenschule war eine Verlängerung des Grundstücks des Realgymnasiums in der Lützowstraße 83 bis zur Steglitzer Straße 29 (heute: Pohlstraße 62) und von der Jungenschule durch eine Mauer getrennt. Der Zugang erfolgte daher über die Steglitzer Straße. Die Grundstücke Steglitzer Straße 28 bzw. 29 hatten der Kaufmann Leopold Engel (Michaelskirchplatz 2, Charlottenburg) und der Besitzer der Apfel-Weinhandlung G. Wenzel (Steglitzer Str. 29) der Schulbehörde 1870 angeboten. Engel hatte zur Begründung seiner Forderung von 78.000 Mark die Mieteinnahmen seines Wohnhauses in der Nr. 28 aufgelistet: die Jahresmiete von 7 Parteien summierte sich auf ca. 3000 Taler oder 8500 Mark, d.h. seine Forderung entsprach etwa der 10-fachen Jahresmiete. Wenzel hatte für sein Grundstück 68.000 Mark verlangt. Für die Gesamtplanung der Schulgebäude (Schule, Turnhalle, Lehrerhaus) (Bild 1) wurde am Ende das Wenzelsche Grundstück von 2071 qm gekauft und durch ein hinter den Häusern der Steglitzer Straße 30 gelegenes Grundstück von 1383 qm, das dem Buchhändler Lipperheide und zur Lützowstraße 83 gehörte, ergänzt (3). Der Gesamt-Kaufpreis betrug 222.825 Mark, die Baukosten beliefen sich auf 380.000 Mark (4), insgesamt kostete der Schulneubau also etwas mehr als 600.000 Mark, was einer Kaufkraft von 4,5 Millionen Euro heute entspricht (2). Der Kaufmann Engel hatte 1880 sein Grundstück ebenfalls verkauft, hier stand statt der Schule jetzt ein 5-stöckiges Wohnhaus (siehe Bild 2) mit insgesamt 20 Mietern, das dem Zimmermeister Wittekopf gehörte.

Bild 1: Situationsplan der Charlottenschule vor Baubeginn (aus (3).

Die Charlottenschule hatte zu Beginn (1879) etwa 500 Schülerinnen, aber nach Erreichen der vollen Klassenstufen mehr als 900 Schülerinnen, die in zwei Parallelklassen je Jahrgang und 48 Schülerinnen je Klasse auf insgesamt neun Jahrgangsstufen unterrichtet wurden. 1883 wurde durch den Direktor eine weitere, 10. Stufe (Klasse IA) hinzugefügt für Mädchen, die im 15. Lebensjahr noch zusätzlichen Bildungsbedarf hatten; dies stand sehr im Gegensatz zur Auffassung des Stadtschulrates Dr. Cauer, der bei der Einweihungsfeier 1879 noch betont hatte, dass „die Frau in erster Linie für das Haus erzogen werden müsse … trotz der Notwendigkeit, daß allmählich auch die Frauen ihre Kenntnisse und Fertigkeiten zur Gründung einer selbständigen Existenz benutzen müssen“ (1). Allerdings gab es in den ersten drei Jahre 117 Dispensionen (vorzeitige Entlassungen) von Schülerinnen, wofür viele Gründe verantwortlich sein können: mangelnde oder überschätzte Leistungsfähigkeit einerseits, fehlende oder unzureichende familiäre und soziale Lernbedingungen andererseits. Um 1900 wurde die Zahl der Schülerinnen je Klasse auf 40 begrenzt, so dass die Gesamtzahl der Mädchen bei 750 verblieb.

Die Lehraufgaben wurden anfänglich (1879) von 16, zehn Jahre später aber schon von 32 Lehrkräften bewältigt; davon waren etwa die Hälfte weiblich, diese zumeist in den unteren Rängen. Dr. Goldbeck, 1830 in Potsdam geboren und bis dato Direktor der Luisenschule in der Spandauer Vorstadt, wurde zum Direktor der Charlottenschule gewählt; seine Einstellungsbedingungen dürften denen des Direktors des Falk-Realgymnasiums vergleichbar gewesen sein, der 6600 Mark im Jahr erhielt bei freier Wohnung im Direktorenhaus und zwölf Stunden Unterrichtspflicht zuzüglich aller administrativen Aufgaben eines Direktors (Aufsichtspflicht, jährliche Berichtspflicht, etc.). Dr. Cochius, bislang Oberlehrer am Leibnitz-Gymnasium, wurde zum ersten Oberlehrer gewählt, bei einem Jahresgehalt von 5700 Mark und 20 Wochenstunden Unterricht. Der zweite Oberlehrer, Dr. Völkering, erhielt 4800 Mark Jahresgehalt bei gleicher Stundenzahl (4). Entsprechend werden die weiteren (ordentlichen) Lehrer abgestufte Gehälter bekommen haben.

Bild 2: Das Direktorenhaus der Charlottenschule in der Steglitzer Straße 29 (heute: Pohlstraße 62) (Quelle: Sammlung Schmiedecke mit freundlicher Genehmigung). Rechts angeschnitten das Wohnhaus Steglitzer Straße 28.

Das Direktorenhaus (Bild 2), das noch heute existiert (Bild 3), scheint für eine einzelne Familie recht groß, aber es enthielt nicht, wie man denken mag, auch Räume für die anderen Lehrer; vielmehr hatten hier im Erdgeschoss der Schuldiener (Pedell = Hausmeister) und der „Turndiener“ ihre Wohnungen, während der Direktor und seine Familie im 1. und 2. Stock wohnten.

Bild 3: Das frühere Direktorenhaus heute (Pohlstraße 62) (Eigenes Foto, PE)

Die Namensgebung – nach der preußischen Prinzessin und Erbprinzessin von Sachsen-Meiningen, Charlotte, Tochter des Prinzen Albrecht von Preußen, Bruder Kaiser Wilhelm I. – erfolgte in einem komplexen Kommunikationsreigen diverser Institutionen (4). Dazu wandte sich zunächst der Magistrat der Stadt am 20. März 1879 an die Prinzessin und erfragte ihre Zustimmung. Ihr Ehemann – und nicht die Prinzessin selbst – ließ am 20. April 1879 durch seinen Adjutanten, Maximilian Freiherr von Lyncker (1845-1923), „Hauptmann á la suit des 2. Garde-Regiments zu Fuß, kommandiert zur Dienstleistung bei Seiner Hoheit dem Erbprinzen von Sachsen-Meiningen“ mitteilen, dass dies der Prinzessin „zur besonderer Freude gereichen würde„, und er deswegen empfehle, den Wunsch „auf geeignetem Wege bei seiner Majestät dem Kaiser und König zu erbitten“ (Bild 4). Daraufhin schrieb das Königliche Provinzial-Schulkollegium am 15. Mai 1879 an den zuständigen „Minister des geistlichen, Unterrichts- und Medicinal Angelegenheiten“ Dr. Falk (nach dem das Falk-Realgymnasium benannt ist) und machte einen entsprechenden Vorschlag. Dieser reichte den Vorschlag in einer Immediatsvorlage bei Kaiser Wilhelm I. ein, der dann in einem „allerhöchsten Erlaß“ vom 25. Juni 1879 seine Zustimmung gab, die als Telegramm aus Bad Ems kam, wo der Kaiser offenbar kurte.

Bild 4: Antwort des Maximilian Freiherr von Lyncker auf die Bitte des Magistrates der Stadt, die Schule nach der Kronprinzessin Charlotte benennen zu dürfen (aus: (4)).

Aufstieg und Ende

1908 traten neue Bestimmungen für höhere Mädchenschulen in Kraft, wonach mindestens die Hälfte der Unterrichtsstunden von akademisch gebildeten Lehrer:innen durchgeführt werden müssen, um die Anerkennung als höhere Bildungsanstalt zu erhalten; ein Abschluss erlaubte den Eintritt in ein Lehrerinnenseminar. 1912 wurde der Name in Charlotten-Lyceum geändert, und das Abschlusszeugnis wurde endlich als Reifezeugnis (Abitur) anerkannt und erlaubte somit das Studium an einer Universität; gleichzeitig wurden die Universitäten für Frauen geöffnet.

Nach dem ersten Weltkrieg kamen unruhige Zeiten: Im Rahmen der Novemberaufstände 1919 musste die Schule geräumt werden für die Freischärler, dann wurde die Schule mit einigen Klassen der 6. Mädchenmittelschule (Caroline von Humboldt-Schule) zusammengelegt. 1922 wurde mit Ulrike Scheidel (Bild 5) erstmals eine Frau Direktorin des Charlotten-Lyceums.1923 musste das Charlotten-Lyceum in die Körner-Realschule umsiedeln, da in diesem Super-Inflationsjahr nur ein Schulhaus beheizt werden durfte, dann wurde sie reduziert auf ein 6-stufiges Lyzeum (ohne Oberstufe), so dass im Jahr 1929 nur noch 238 Schülerinnen die Schule besuchten. Anträge von Elterninitiativen, dies rückgängig zu machen, wurden „aus planwirtschaftlichen Gründen abgelehnt, zuletzt mit dem Hinweise, daß bei der Umwandlung der Wohngegend in eine reine Geschäftsgegend [Hervorhebung von mir] eine Vollanstalt in naher Zukunft nicht mehr existenzfähig sein würde …“ (5).

Bild 5: Ulrike Scheidel (1886-1945), die erste Direktorin der Charlottenschule (aus: Wikipedia, gemeinfrei).

Die 50-Jahr-Feier 1929 läutete gleichzeitig das Ende der Schule in der Steglitzer Straße ein: Zu Ostern 1930 wurde das Charlotten-Lyceum in die Park-Schule in Neu-Tempelhof verlegt, wo ein Neubau geplant war, auch wenn das Lyceum noch bis 1933 laut Adressbuch in der Steglitzer Straße 29 verblieb. Von 1934 an und bis 1943 war in der Steglitzer Straße 29 (ab 1937: Ludendorffstr. 62) eine städtische Handelsschule für Mädchen eingetragen, die durch die Bombardierungen in den nächsten zwei Jahren vermutlich ihren Betrieb einschränken, wenn nicht aufgeben musste.

Literatur

  1. 50 Jahre Charlottenschule 1879. Denkschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Charlotten-Lyceums zu Berlin von Studiendirektorin Ulrike Scheidel. Berlin, Oktober 1929.
  2. kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf
  3. Akte im Landesarchiv Berlin: A Rep. 020-02 Nr. 128.
  4. Erster Jahresbericht über die Charlotten-Schule in Berlin für das Schuljahr 1879-80. In: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA), Akte I. HA Rep. 76, VI. Sekt. 14ee Nr.14, Band 1.
  5. GStA, Akte I. HA Rep. 76, VI. Sekt. 14ee Nr. 14, Band 2.

Paul Enck

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