Erinnerungen an eine unvergessliche Sozialdemokratin
Ein Gastbeitrag von Heiner Wörmann
Meine Erinnerungen an Helga Cent-Velden gehen zurück in die 80erJahre, als ich mich im damaligen Tiergarten-Süd intensiver in der SPD engagierte. Mit Helga an meiner Seite als Vorsitzender der Abteilung war das Engagement in der Berliner SPD wirklich unterhaltsam. Auf unseren Kreisdelegiertenversammlungen schien jede und jeder Helga zu kennen. Und ihre Wortmeldungen – „Heiner, soll ich dazu mal etwas sagen“ – waren immer auf den Punkt gebracht. Scheu vor großen Namen in unserer Partei waren ihr völlig fremd. Helga sprach jede prominente Genossin oder Genossen an, wenn sie es von der Sache her für richtig hielt. Dabei hatte sie immer die Anliegen der Menschen im Kiez im Blick, wohnte Helga doch viele Jahre am Magdeburger Platz.
Außerdem hatte sie zu allen Sitzungen Proviant dabei; sehr hilfreich, wenn man es selbst mal wieder vergessen hatte.
Aber Helgas Engagement in den Parteigremien wurde getoppt durch ihren Einsatz an unserem monatlichen SPD-Infostand an der legendären Kreuzung Potsdamer Straße / Ecke Kurfürstenstraße vor dem Kaufhaus Woolworth. In den mindestens vier Stunden, die jüngere Genossen/innen kaum durchhielten, war Helga nicht nur mit dem Verteilen unserer Materialien und Flugblätter beschäftigt, sondern verwickelte interessierte Passanten in lange Gespräche. Ein besonderer Hit war damals die Verteilung von Gas gefüllten SPD-Luftballons, was heute aus ökologischen Gründen nicht mehr so gut ankommt. Ebenso liebte Helga den Infostand vor der Allegro-Grundschule bei der Einschulung der neuen Erstklässerinnen und Erstklässer. Die Kleinen bekamen pädagogischen Schnickschnack und den Eltern wurde das Schulgesetz Berlin mit den Aufgaben der Elternvertretung überreicht. Damals war die SPD in Tiergarten-Süd stärkste Partei…
Um Helgas wunderbares, lebensbejahende Wesen trotz des Nachlassens der körperlichen Kräfte zu verstehen, ist ein Blick auf die Zeit in Berlin wichtig, die sie vor fast hundert Jahren als kleines Kind erlebte. Geboren 1926 in Berlin-Wedding wurde sie in der dortigen Versöhnungskirche getauft und konfirmiert. Deren drei Pfarrer gehörten zur Bekennenden Kirche, die sich gegen die dem Nationalsozialismus nahestehenden Deutschen Christen einsetzten. Als Helga im siebten Lebensjahr war, wurde Hitler von Präsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Zweimal erlebte Helga als junges Mädchen in Begleitung ihres Vaters Auftritte von Adolf Hitler, unter anderem im Sportpalast, und fand ihn grässlich.
Ihr Vater war Vorarbeiter bei der AEG und sah bereits bei Hitlers Machtübernahme den Krieg voraus. Helga begann mit 15 Jahren im gleichen Konzern eine Ausbildung als technische Zeichnerin. Eine der ersten Aufgaben betrafen das Kraftwerk im KZ Auschwitz.
Nach der Rede von Goebbels „Wollt Ihr den totalen Krieg…“ gab es verstärkte Bombardierung durch die Alliierten. Helgas Familie verlor in Köln 22 Angehörige. Ab Beginn 1943 steigerten sich auch die schweren Angriffe auf Berlin. Im November des Jahres wurde die Wohnung ihrer Familie ausgebombt. Die letzten Kriegsmonate überlebte sie fast nur noch im Luftschutzkeller. Dann erfuhr Helga für einen Moment das Kriegsende im völlig zerstörten Berlin als wunderbares Gefühl der Befreiung.
Doch wenige Tage später stand sie auf Befehl der sowjetischen Administration frühmorgens an der Ecke Tiergarten-/ Stauffenbergstraße mit vierzig anderen Frauen, um überall im Tiergarten herumliegendes Kriegsmaterial aussortieren – nach der Devise „die Munition ins Wasser, den Rest in den Bombentrichter!“ Als Helga nach ein paar Tagen mit einem Bündel der abmontierten Holzgriffe von Handgranaten zum Feuermachen nach Hause kommt, war der Vater entsetzt und verbot seiner Tochter diesen gefährlichen Einsatz. Zwei Tage später explodierte im Tiergarten eine Panzerfaust – zwei Frauen starben und vierzehn weitere wurden schwer verletzt.
Ab Juni 1945 gehörte Helga dann zu den etwa 70.000 Trümmerfrauen, die über viele Monate das zerstörte Berlin von über 90 Millionen Kubikmeter Schutt befreiten. Über 11 Millionen deutsche Männer waren noch in Kriegsgefangenschaft und über 5 Millionen Soldaten waren gefallen.
Viele Jahre berichtete Helga Cent-Velden als Zeitzeugin von ihren Erlebnissen, auch als sie schon fast blind und schwerhörig war und im Rollstuhl saß. Vor kurzem ist sie im Alter von fast 98 Jahren gestorben.