Spaziergang mit Lia Hiltz und Paul Enck (22): Auf Wiedersehn, Lia Hiltz

Gastbeitrag von Paul Enck www.paul-enck.com

Am Anfang dieser Serie, am 18. Mai 2021, waren Lia und Paul auf den Kirchturm der 12-Apostel-Kirche an der Kurfürstenstraße gestiegen (Bild 1),

Foto: P. Enck

und während Paul den Blick nach Süden wandte, weigerte Lia sich beharrlich und blickte konstant nach Norden, auf den Lützow-Kiez, den sie im Bild festgehalten hatte (Bild 2) – den Blick nach Schöneberg verweigerte sie. Sie hatte dort einige Jahre gewohnt, aber jetzt wollte sie auf ihr neues Zuhause blicken.

Copyright Lia Hiltz

In diesen Tagen (genauer: am 20. Juli 2023) verlässt Lia den Kiez wieder und geht mit ihrer Familie nach Kanada zurück, keineswegs mit leichtem Herzen, sondern mit Tränen in den Augen und der unklaren Vorstellung, ob sie den Kiez und die Freund*innen, die sie hier gefunden hat, in absehbarer Zeit wiedersehen wird. Ich werde sie vermissen: weil mir ihr Blick auf den Kiez, ihre Cartoons wie ihre Kommentare, gefallen haben, weil sie ein Gegengewicht geschaffen haben zu meiner doch sehr historischen Sichtweise, in der die Geschichten meist vor der Gegenwart enden.

Lias Blick nach Norden am 18. Mai 2021 war daher für sie so typisch wie mein Blick nach Süden. Ihr Blick richtete sich auf das, was hier und heute zu sehen ist: Neubau und Umbruch, aber eben auch Gentrifizierung und Prostitution, die der Vergangenheit entstammen – und das hat sie gezeichnet. Mein Blick reflektierte die Entwicklung Berlins: es gab immer einen Trend nach Süden, Richtung Potsdam; die Stadtteile südlich der Mitte (dem Schloss) waren immer die attraktiven Zuzugsgebiete bei jeder Stadterweiterung: die Friedrichsvorstadt (später: Friedrichstadt) als erste große Stadterweiterung ab 1730, die Schöneberger Vorstadt (heute: der Lützow-Kiez) nach der Stadterweiterung 1862 (Hobrecht-Plan), das als Villenvorstadt geplante Friedenau als Erweiterung von Schöneberg ab 1875, die Villenstadt Lichterfelde zur gleichen Zeit – immer war der Blick vornehmlich nach Süden (oder Südwesten) gerichtet, nach Potsdam als dem neben Berlin existierenden zweiten preußischen Herrschaftszentrum.

Zwar gab es natürlich auch eine Erweiterung der Stadt Berlin nach Norden, sowohl vor dem Hobrecht-Plan 1862 wie danach, aber der Norden war immer auch sozialer Brennpunkt: das Scheunenviertel nördlich der alten Ringmauer als traditionelles Judenviertel, die Vorstadt Richtung Spandau und Moabit als Testfelder der frühindustriellen Entwicklung ab 1850, z.B. die Maschinenfabrik Borsig, der Bezirk Reinickendorf als Ansiedlungsgebiet vieler kleiner und mittelständischer Unternehmen nach 1920. Zwar gab es auch hier Villenviertel wie Frohnau (ab 1900), aber deren Entwicklung wurde durch die nahe innerdeutsche Grenze ab 1945 deutlich behindert. Dieses soziale Süd-Nord-Gefälle ist daher der gesamten Berliner Entwicklung immanent und heute kaum anders als vor 200 Jahren (1).

Während also der historisierende Blick von Paul eher gen Süden gerichtet ist, ist Lias Blick auf die Gegenwart der nach Norden: dort entsteht Neues, dort findet Wandel statt, dort pulsiert das Leben (wobei: pulsierendes Leben kann man den Schönebergern nicht absprechen!). In einem ihrer letzten Comics (noch unveröffentlicht) hat Lia darüber reflektiert, was von den guten wie schlechten Erinnerungen ihres Sohnes an seine Zeit im Lützow-Viertel wohl bleiben wird.

Heute wünsche ich Lia, dass die guten Erinnerungen die weniger guten verdrängen mögen und der Lützow-Kiez für sie das bleibt, was sie sich davon versprochen hat und was sich zusammenfassen lässt in ihren Worten: „it was the best time of my life“ – Auf ein Wiedersehn, Lia, und vergiss nicht: Du hast noch einen Koffer in Berlin.

  1. Ekkehard Wiest. Das Berliner Adreßbuch des Jahres 1812, In: Stadtgeschichte im Fokus von Kultus- und Sozialgeschichte. Festschrift für Laurenz Demps. Hrg. von W. Voigt & K. Wernicke. Trafo Verlag Berlin 2006, S. 119-158

 

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