„Wo Es war, soll Ich werden.“
Sigmund Freud ging davon aus, dass schwere, unverarbeitete Erfahrungen in der Kindheit verdrängt werden müssen, weil die kindliche Persönlichkeit anderenfalls darunter zusammenbrechen würde. Die Psychoanalyse verspricht Heilung durch die Bewusstmachung des Verdrängten. Noch bevor Freud 1910 die „Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV)“ gründete, entstand in Berlin auf Initiative seines Schülers Karl Abraham 1908 die Berliner Psychoanalytische Gesellschaft, in der er hoch motivierte und kompetente Menschen (nicht nur Ärzte wie Erich Fromm, Michael Balint, Ernst Simmel) um sich scharte, die sich der Psychoanalyse widmeten.
Gemeinsam mit Max Eitigon und Ernst Simmel gründete Abraham die „Polyklinik für psychoanalytische Behandlung nervöser Krankheiten“ , die am 16. Februar 1920 in der Potsdamer Straße 29 (heute Potsdamer Straße 74) eröffnet wurde.
Diese ermöglichte als erste Klinik ihrer Art auch finanzschwachen Patient*innen eine psychoanalytische Behandlung, die bis dahin im Wesentlichen einer wohlhabenden Klientel vorbehalten war. „Vom sechsjährigen Kind bis zum siebenundsechzigjährigen Greis, vom Arbeiter und Dienstmädchen bis zur Generalstochter, zur Nichte eines Ministerpräsidenten und zu einem sehr einflußreichen Politiker“ reichte laut Eitingon das Spektrum der Ratsuchenden.
Die Klinik war aber auch zentraler Teil des Berliner Psychoanalytischen Instituts, in dem erstmals auch eine strukturierte Lehre der Psychoanalyse erfolgte. So wurde hier die dreigliedrige Ausbildung (theoretische Kurse, Lehranalyse, Behandlung erster Patient*innen unter Supervision) entwickelt, die später in der ganzen Welt Ausbildungs-Standard wurde.
Wie bedeutend unser Kiez für die Entwicklung der Psychoanalyse war, zeigt auch der vom 25. -27.September 1922 in der Kurfürstenstraße 115/116 am „Haus des jüdischen Brüdervereins gegenseitiger Unterstützung“ abgehaltene 7. Internationale Kongress der IPV; der letzte, an dem Sigmund Freud persönlich teilnahm.
Unter dem Vorsitz Max Eitingons in der Internationalen Unterrichtskommission wurde das Institut zum Vorbild der Psychoanalytischen Institute der Welt. Siegmund Freuds Tochter Anna Freud schrieb 1970 zum 50jährigen Jubiläum des Instituts: „Die psychoanalytische Welt soll auch nicht vergessen, dass die enge Verbindung Behandeln, Lehren und Forschen, die heute das Bestehen jeden analytischen Institutes kennzeichnet, vor 50 Jahren in Berlin ihre erste Verwirklichung gefunden hat.“
An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass dies nur mit der großzügigen finanziellen Unterstützung Max Eitingons möglich war, der aus seinem Familienvermögen (aus dem Fellhandel) nicht nur die Poliklinik und das Institut finanzierte, sondern auch den 1919 gegründeten Wiener Psychoanalytischen Verlag unterstützte. Wie viel die Psychoanalyse Eitingons verdankte, fasste Freud in die Worte: „Die besten Fälle der Analyse sind die Felle des alten Eitingon.“
Den Nationalsozialisten waren die Lehren der Freud’schen Schule von Anfang an als „undeutsch“ verhasst. Am 10. Mai 1933 wurden Freuds Bücher mit dem sog. Feuerspruch „Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud.“ auf dem Opernplatz (heute Bebelplatz) verbrannt. In der Folge emigrierten die meisten der zum großen Teil jüdischen Analytiker. Die verbliebenen jüdischen Mitarbeiter*innen wurden von 1935 an von den Nazis aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft ausgeschlossen. Die letzten nicht-jüdischen Therapeuten (wie Carl Müller-Braunschweig und Felix Böhm) wurden in das unter Regie des Reichs-Innenministeriums gegründete Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie übernommen. Ebenso wie das gesamte Inventar des 1928 bereits in die Wichmannstraße umgesiedelten Instituts.