Die Familie von Franz Ledermann
(Teil 2)

Ein Beitrag aus der Serie „Jüdische Geschichte im Lützow-Viertel“ (4.2), von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com.

Nachdem wir im ersten Teil der Geschichte der Familie Ledermann aus dem Lützow-Viertel die Großeltern in Ostrowo aufgespürt hatten, die dann in Breslau verstorben waren (mitttendran vom 19. November 2022), folgen wir heute den Eltern von Franz Ledermann, dem Juristen Benno Benjamin Ledermann und seiner Frau Lucie, geborene Schachtel.

Der Vater: Benno Benjamin Ledermann

1. Das königliche katholische St. Matthias Gymnasium um 1910 (Foto aus der Festschrift (1), gemeinfrei)

2. Abiturienten des Jahrgangs 1868 (aus: Jahresbericht über das königliche katholische St. Matthias-Gymnasium für das Schuljahr 1867-1868. Breslau 1868, S.28).

Der Vater Benno Benjamin Ledermann, geboren am 4. März 1847 in Ostrowo, war bereits zu Schulzeiten, vermutlich ab etwa 1860, aus Ostrowo nach Breslau gekommen: Er besuchte dort das katholische Königliche St. Matthias-Gymnasium (Bild 1), wo er zu Michaelis (Herbst) 1868 zusammen mit 17 anderen (Bild 2) das Abitur machte, um anschließend Jura zu studieren; drei der Abiturienten war jüdischen Glaubens, nur Benjamin kam aus Ostrowo (1). Wir können mit einiger Sicherheit annehmen, dass er in Breslau auch studiert hat, aber (digitalisierte) Universitätsmatrikel stehen zur Überprüfung nicht zur Verfügung.

 

Die erste Meldung seiner juristischen Laufbahn war 1872 die Ernennung zum Referendar (Amtsblatt der Regierung in Breslau 1872). Die nächste Meldung fanden wir in der Jüdischen Presse 1874 auf der Titelseite – zu diesem Zeitpunkt hatte er die juristischen Examina bestanden, war 27 Jahre alt und Rechtsreferendar, und argumentierte in einer politischen Versammlung der jüdischen Gemeinde in Breslau am Sonntag, den 22. Februar 1874 in einer „längeren Rede … daß die Verhandlung überhaupt kein Recht habe ohne Mitwissen der anderen Mitglieder in einer gar nicht zu diesem Zwecke berufenen Versammlung einen für alle Mitglieder bindenden Beschluß zu fassen oder eine Statuten-Änderung vorzunehmen“ (2).

Nur drei Jahre später wird der Referendar Benjamin Ledermann zum Assessor ernannt und als Kreisrichter an das Kreisgericht Beuthen in Oberschlesien versetzt (Amtsblatt der Regierung in Breslau 1877). Damit ist offenbar ausreichend soziale Sicherheit erreicht, um zu heiraten; in Beuthen kommt dann auch der älteste Sohn Curt zur Welt (s. unten).

Nach späteren Angaben seines Sohns Franz folgte eine Stelle als Kreisrichter in Königshütte (hier wird 1881 die Tochter Käthe geboren), und schließlich im gleichen Jahr die Niederlassung als Rechtsanwalt in Hirschberg im Riesengebirge, wo Franz 1889 zur Welt kam. Er erhielt die Anwaltszulassung beim Landgericht Hirschberg 1881 (Juristische Wochenschrift 1881), wurde dort im Jahr 1895 Notar mit der „Anweisung seines Wohnsitzes in Hirschberg“ (Deutsche Justiz 1895) und erreichte 1897 die Ernennung zum Justizrat (Der Gemeindebote März 1897). Wenige Wochen vor seinem Tod 1911 (s. unten) wurde ihm der Preußische Rote Adlerorden verliehen. All das klingt nach langsamem, aber beständigem sozialen Aufstieg: von der westpreußischen Provinz (Ostrowo) über das oberschlesisches Bergbau-Gebiet (Beuthen, Königshütte) ins niederschlesische Hirschberger Tal am Fuße des Riesengebirges (Hirschberg), traditionelles Urlaubsziel auch für Berliner im 19. und 20. Jahrhundert (Bild 3).

3. Karte der Provinzen Posen und Schlesien im Deutschen Reich von 1875 (gemeinfrei). Farbig markiert sind die Orte Posen, Ostrowo, Breslau, Beuthen und Königshütte, sowie Hirschberg.

Und Benjamin, inzwischen meistens Benno Ledermann genannt, engagierte sich: Im Verband der Synagogen-Gemeinden der Regierungsbezirke Breslau und Liegnitz bei dessen Gründung 1897 und in den nachfolgenden Jahren, im Deutschen Reichsverband jüdischer Religionslehrer, bei der Gründung eines jüdischen Lehrerheims, im „Verband für jüdische Geschichte und Litteratur“, im Israelitischen Frauenhilfe-Verband Hirschberg, im Vorstand des jüdischen Kurhospitals Warmbrunn. Und wenn in Stonsdorf, einem Dorf in der Nachbarschaft Hirschbergs, 1910 das Jubiläum zum 100-jährigen Bestehen des „Echt Stonsdorfer Kräuterschnapses“ gefeiert wurde, gab der Justizrat auch dort einen „Rückblick auf die Entwicklung der Firma“ (3). Selbst so alltägliche Dinge wie die Suche nach einem Vertreter für den Kantor und Schächter seiner Gemeinde gingen offensichtlich nicht ohne sein Zutun (Bild 4).

4. Anzeige im Israelitisches Familienblatt, 5.Jahrgang Nr. 26 vom 26. Juni 1902

Tragischerweise war es wohl dieses sein Engagement, das ihm zum Verhängnis wurde:  Benno Ledermann starb am 18. Juni 1911 im Alter von nur 65 Jahren an einem Herzschlag während einer Veranstaltung des Synagogenverbandes, auf der er einen engagierten Vortrag gehalten hatte. Die Details sind in mehreren Tages- und Wochenzeitungen danach berichtet worden, zusammen mit einer Würdigung seiner Arbeit:

Auf der Jahrestagung des Verbandes „ergriff der Vertreter für Hirschberg, Justizrat Ledermann, das Wort, um nochmals, wie schon im Vorjahre – den ablehnenden Standpunkt, den die Synagogengemeinde Hirschberg … einnimmt zu begründen. Leider sollten es die letzten Worte dieses standhaften und mutigen Mannes sein, in dessen Brust noch ein echt jüdisch empfindendes Herz schlug und der sich – obgleich er selbst nicht auf dem Boden des gesetzestreuen Judentums stand – eine aufrichtig jüdische Gesinnung bewahrt hatte … [es folgt ein Auszug seiner Rede, sowie die weiterer Redner] … Justizrath Ledermann – Hirschberg, der diesen Worten … mit sichtlichem Interesse gefolgt war, wollte soeben nochmals das Wort ergreifen. Im Begriff, sich zu erheben, sank er in seinen Sessel zurück, und die in seiner Nähe befindlichen Herren vermochten nur noch mit Mühe seinen Fall aufzuhalten … Die anwesenden Aerzte eilten herbei, allein schon nach wenigen Sekunden war das kostbare Leben entflohen“ (4) (Bild 5 und 6). Die Sitzung wurde erst im November 1911 fortgesetzt.

5. Artikel aus Der Israelit 1911 (4).

6. Todesanzeigen im Berliner Tagblatt vom 20. Juni 1911

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Mutter: Lucie Ledermann geborene Schachtel

Der Kreisrichter Benno Ledermann in Beuthen (Oberschlesien) hatte sich im Juni 1878 mit Lucie Schachtel verlobt, wie das Berliner Tagblatt (vom 28. Juni 1878) berichtete, und hatte sie am 10. November 1878 in Breslau geheiratet. Sie war die am 26. Juni 1860 geborene Tochter des dortigen Kürschnermeisters Markus Schachtel und dessen Ehefrau Rosalie, geborene Eisenstädt. Im Adressbuch von Breslau 1874 ist die Familie in der Goldenen Radegasse 13 (auch Antonienstr. 3) ansässig, ein Haus in der Innenstadt, das aber nicht dem Kürschner gehörte. Es war die einzige Familie mit diesem Namen in Breslau.

Das Paar hatte drei Kinder, Curt Otto, der 1879 in Beuthen geboren wurde, Hedwig Käthe, die 1881 in Königshütte zur Welt kam, und der jüngste Sohn Franz Anton, geboren 1889 in Hirschberg (s. Bild 3). Ihnen werden die nächste drei Kapitel der Familiengeschichte gewidmet sein.

Typischerweise „verschwinden“ Ehefrauen in dieser Zeit in offiziellen Dokumenten hinter ihren Männern und sind weder im Adressbuch verzeichnet noch anderweitig öffentlich sichtbar. Erst nach dem Tod ihres Ehemannes tauchte die „Frau Justizrat Ledermann“ gelegentlich auf, z.B. im Israelitischen Frauenverein von Hirschberg und in den Spendenlisten jüdischer Wohlfahrtsverbände. Nach dem Tod ihres Mannes meldete sich die Witwe am 6. Mai 1915 von Hirschberg nach Posen ab und wohnte dort in der Wittingstraße 12, der Adresse ihres Schwiegersohns Felix Kämpfer und ihrer Tochter. Nach deren Wegzug nach Berlin 1920 zog sie wieder nach Hirschberg (im Adressbuch von 1935 wohnte sie in der Stonsdorfer Str. 2), wo sie am 12. September 1936 im Alter von 76 Jahren verstarb. Sie mag in der vermeintlichen Sicherheit gestorben sein, dass ihre beiden Kinder Franz und Käthe mit ihrer Auswanderung nach Holland vor den Nazis sicher seien – auch im „Gau Schlesien“ hatte längst die „neue Zeit“ genannte Terrorisierung der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten begonnen.

Literatur

  1. Festschrift des königlichen St. Matthiasgymnasium zur Jahrhundertfeier, 1811-1911. Meisenbach Riffarth & Co., Berlin-Schöneberg 1911 (S.233); s. auch: Jahresbericht über das königliche katholische St. Matthias-Gymnasium für das Schuljahr 1867-1868. Breslau 1868, S.28.
  2. Die Jüdische Presse – Organ für die religiösen Interessen des Judentums. 5. Jahrgang, Nr. 11 vom 11. März 1874, Seite 1.
  3. Ulrich Junker. Hrsg. 200 Jahre Stonsdorfer (Jubiläumsjahr 2010). Hunderjahrfeier des Stonsdorfer im Jahr 1910 (digital unter: https://jbc.jelenia-gora.pl/dlibra/show-content/publication/edition/41277?id=41277), Seite 5
  4. Der Israelit – Centralorgan für das orthodoxe Judentum, Heft 25, 22. Juni 1911, Seite 6f

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