(ein Beitrag von Regine Lockot)
In der Kurfürstenstraße 115/116 fand vom 25. bis 27. September 1922, im „Haus des jüdischen Brüdervereins gegenseitiger Unterstützung”, der 7. Internationale Psychoanalytische Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) statt. Er war der letzte, an dem Sigmund Freud persönlich teilnahm.
Nach einer Blütezeit der Psychoanalyse im Berlin der 20er Jahre wurden ab 1933 alle jüdischen Psychoanalytiker durch die Nationalsozialisten aus Deutschland und später auch aus Österreich vertrieben. Sigmund Freud fand in London Exil, wo er am 23. September 1939 starb.
Heute steht hier auf dem Mittelstreifen der Kurfürstenstraße eine Stele.
In einem Betonrahmen ist eine Kopie der Gradiva, mit Ausrichtung auf die, als Mahnort gestaltete, Bushaltestelle angebracht. Auf der Rückseite befindet sich eine Glastafel, die in deutscher und englischer Sprache über den Zusammenhang informiert.
Bis zu seiner erzwungenen Emigration 1938 hing ein Gipsabdruck der „Gradiva” neben Sigmund Freuds Couch in Wien. Seine Interpretation der Gradiva-Novelle von Wilhelm Jensen ist die erste größere psychoanalytische Untersuchung eines literarischen Werkes.
Die Gradiva steht dem Ort gegenüber, an dem das ‚Haus des Jüdischen Brüdervereins für gegenseitige Unterstützung‘ einst gestanden hat. Der internationale Kongress, der hier 1922 stattfand, war für die Psychoanalyse von großer Bedeutung, da er ein breites Spektrum richtungweisender psychoanalytischer Themen auffächerte.
1940 missbrauchte Adolf Eichmann das Haus des Brüdervereins als Deportationszentrale für Juden. Daran erinnert die von dem Künstler Ronnie Golz als Mahnort gestaltete Bushaltestelle.
Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft mußte 1938 aufgelöst werden. Zum Thema „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Psychoanalyse und Kultur heute” kamen 85 Jahre später zum ersten Mal nach dem 2. Weltkrieg wieder Psychoanalytiker der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung nach Berlin, um hier vom 25. bis 29. Juli 2007 den 45. Internationalen Psychoanalytischen Kongress abzuhalten. Dies war der Anlass zur Errichtung der Gradiva-Stele.
Die Gradiva, die Freud ins Londoner Exil ‘begleitete‘, erinnert auch daran, dass Freud ebenso hätte deportiert werden können wie die vielen Tausenden, die von hier aus in den Tod geschickt wurden. Das ist eine bestürzend konkrete Vorstellung.
Die vielfache Besetzung des Ortes durch die Figur der Gradiva als Novelle, als psychoanalytische Übertragungsfigur, die allen Psychoanalytikern weltweit bekannt ist, als Gegengestalt Eichmanns und seiner nationalsozialistischen Verbrechen wird damit zu einem Ort, der an die gemeinsame psychoanalytische Kultur erinnert – aber nicht ohne die zerstörerische NS-Vergangenheit auszublenden. Damit wird der Ort zu einem dialogischen Angebot, der zum Erinnern und Nachdenken einlädt.
(mehr dazu und zu Freud in Berlin: https://mitfreudinberlin.jimdofree.com/die-gradiva/)