(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck)
Bei der Flottwellstraße stimmen die Angaben bei Kauperts, auch dass der untere Teil (zwischen Schöneberger Ufer und Lützowstraße) ursprünglich, als sie im Zuge des Baus der Eisenbahnstrecke Berlin – Potsdam ab 1837 angelegt wurde, Straße Nr. 24 hieß, bevor sie 1865 umbenannt wurde: Heinrich Eduard von Flottwell (1786-1865) war studierter Jurist, preußischer Beamter und Politiker, stammte aus Ostpreußen (Insterburg) und brachte es in Preußen sehr weit: Richter, Regierungsrat, Oberpräsident der Provinz Posen, preußischer Finanzminister, Oberpräsident der Provinz Westfalen, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung 1848, preußischer Innenminister, Ehrenbürger von Berlin. Als er 1862 in den Ruhestand ging, war er hochdekoriert mit allen preußischen Orden und 1861 geadelt worden. Drei Jahre später wurde eine Straße nach ihm benannt, posthum, knapp drei Monate nach seinem Tod. Auch auf diesem Straßenschild findet sich kein Hinweis, aber vermutlich ist das niemandem so richtig wichtig, so viele Straßen gibt es vermutlich in ganz Berlin nicht, als dass alle preußischen Spitzenbeamten aller Zeiten (oder nur des 19. Jahrhunderts) eine „eigene“ Straße hätten bekommen können.
Erst auf den zweiten Blick wird das Bild des „Spitzenbeamten“ brüchig: Die „Ära Flottwell“ (1831 bis 1841) in Westpreußen (Posen) hat bei unseren polnischen Nachbarn keinen guten Ruf, sie gilt als das Ende der bis dato eher liberalen Politik Preußens, etwa im Vergleich zur Politik Russland und Österreichs (1). Statt also bei Wiki-Deutschland abzuschreiben, lohnt sich gelegentlich der Versuch, den Suchbegriff in einer anderen Sprache einzugeben, und wenn man der nicht mächtig ist, mithilfe eine Programms eine Rückübersetzung zu versuchen. Hier also Wikipedia-Polen zu Eduard von Flottwell, knapp und kurz und rückübersetzt mit dem genialen www.DeepL.com:
„Im Jahr 1830 wurde er Oberpräsident des Großherzogtums Poznań, das eine preußische Provinz war. Er betrieb eine aktive Germanisierungspolitik, ordnete schwere Repressionen gegen die großpolnischen Teilnehmer des Novemberaufstandes an, vor allem Beschlagnahmung des Eigentums. Er gab der deutschen Sprache offiziellen Charakter (1832) und entwickelte das Polizeisystem. Am 31. März 1833 erließ er ein Dekret, das die Aufhebung aller Klöster im Großherzogtum Poznań (mit gleichzeitiger Konfiszierung des Vermögens) innerhalb von drei Jahren vorsah. Gleichzeitig setzte er sich für die Emanzipation der Juden ein und integrierte sie in die deutsche Gesellschaft.“
Da wird aus der Verwaltungsreform vor allem die Einführung eines Polizeisystems nach preußischem Muster, vermutlich auch eines preußischen Steuer- und Finanzsystems, um Straßen und Verkehr zu modernisieren und finanzieren, und eines Rechtssystems, um politische Abweichungen effizient zu kontrollieren; und mit der „Germanisierungspolitik“ vor allem eine rücksichtlose Unterdrückung der polnischen Sprache in allen öffentlichen Bereichen, Verwaltung, Kultur und Erziehungswesen, sowie das Zurückdrängung des Einflusses der Kirche (was ein Vierteljahrhundert später als Bismarck´scher „Kulturkampf“ in die Geschichte eingehen wird). Und dass, obwohl 2/3 der Bewohner der Provinz polnisch und katholisch waren, und nur 1/3 deutsch-sprachig und mehrheitlich protestantisch.
Als es nach der zweiten Teilung Polens 1793 (die erste war 1772) zu Befreiungsbewegungen und Aufständen kam, befürchtete man in Berlin – vermutlich nicht zu unrecht – die Ausbreitung liberaler, nationaler Bewegungen auch in anderen Teilen Europas, und verständigte sich mit Russland und den Siegermächten der Befreiungskriege gegen Napoleon über die dritten Teilung Polens: die Westhälfte Polens wurde Preußen zugeschlagen, der Osten fiel an Russland, der Süden an Österreich: „Dass die Polen es gewagt hatten, ihr nationales Schicksal selbst bestimmen zu wollen, brachte dem polnischen Staat das Todesurteil“ (2).
Die revolutionären Bewegungen in Frankreich, Österreich und Preußen von 1830 und 1848, die auch in Polen Anhänger fanden (Novemberaufstand 1830), wurden gnadenlos unterdrückt – vor allem dafür stand Eduard von Flottwell: Er wurde unmittelbar im Zusammenhang mit den Novemberaufständen (in Krakau) im Dezember 1830 nach Posen geschickt, um ein Übergreifen auf die Provinz zu verhindern; der polnische Statthalter der Provinz bis dato, Fürst Anton Heinrich (Antoni Henryk) Radziwiłł (1775-1833) wurde seines Amtes enthoben.
Zehn Jahre später (1841) rechtfertigte Flottwell seine Arbeit in einer Denkschrift (3). Aufschlussreicher als seine eigenen Ausführungen sind aber in jedem Fall die Repliken aus Briefen, die dieser Denkschrift, die gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, aber dennoch ihren Weg dorthin fand, in einer kritischen Ausgabe beigegeben sind: (Bild 1).
Wenn man, von der Dennewitzstraße kommend, heute die Pohlstraße passiert, kommt man in die Flottwellstraße, aber dieser obere Teil (bis zur Lützowstraße) hieß zunächst Wörlitzerstraße – wie viele andere Straßen in der Gegend ursprünglich nach Städten und Orten benannt und nicht nach preußischen Ministern, Generälen und Schlachten. Warum diese Umbenennung stattfand ist nicht bekannt, vielleicht war der Familie Flottwell das kurze Stück einfach zu wenig, vielleicht wollte man den Minister posthum auch entschädigen für die Tatsache, dass die Straße ja nur eine Seite hat, weil sie nach Osten am Bahngelände lag – eine Konsequenz hatte dies in jedem Fall: Alles musste wieder neu nummeriert werden, aber das ist eine andere Geschichte.
Und so, wie die Straße letztlich nur eine vorzeigbare Seite hatte, fanden wir die private um einiges vorzeigbarer als die politische Seite des Herrn Flottwell, wo er „nur“ der verlängerte Arm preußischer Machtpolitik war. Das drückt sich schon in seinen Portraits aus, die ihn weicher zeigen als seine Politik vermuten lässt; dieses (Bild 2) entstanden vermutlich anlässlich der Verleihung des roten Adlerorders 1855 (das ist das Lametta an seiner Brust; den bekamen über die Jahre immerhin fast 5000 preußische Honoratioren, so viele Straßen konnte Berlin gar nicht aufwarten, um alle zu bedienen, selbst die 1400 Träger des höchsten Ordens, des schwarzen Adlerorders, sind noch zu viele). Und die gleiche, weichere Seite drückt sich auch in seinem Abschiedsbrief an seine Kinder aus, den er kurz vor seinem Tod schrieb (Bild 3) (4).
Aber wie auch immer: Wenn wir schon darüber diskutieren, Straßen umzubenennen, weil der Zeitgeist der „political correctness“ (für die Mohrenstraße) oder die Geschichte (für die Lüderitzstraße, die von-Einem-Straße) dies fordern, wäre es im Interesse einer guten nachbarschaftlichen Beziehung zu Polen mindestens ebenso angebracht darüber nachzudenken, der Flottwellstraße einen neuen Namen zu geben – als polnischer Staatsbürger würde ich eine Absenderangabe aus der Flottwellstraße stets mit einigem Unbehagen auf einen Brief nach Hause schreiben – und hoffen, dass heute dort wie hier niemand viel mit diesem Namen anzufangen weiß.
Literatur
- Mafred Alexander. Kleine Geschichte Polens. Stuttgart, Reclam 2005,
- Martin Broszat: 200 Jahre deutsche Polenpolitik., Frankfurt am Main 1972, S. 63.
- Denkschrift des Oberpräsidenten, Herrn Flottwell über die Verwaltung des Gros-Herzogthums Posen vom Dezember 1830 bis zum Beginn des Jahres 1841, nebst den demselben seitens mehrerer Einwohner des Gros-Herzogthums Posen ertheilten Antwortschreiben. Strasburg 1841
- Manfred Laubert. Eduard Flottwell. Ein Abriß seines Lebens. Berlin, Preußische Verlagsanstalt 1919
Eduard von Flottwell als Oberpräsident hat in der Tat die nationale Freizügigkeit des polnischen Adels stark zurückgedrängt und ist hart gegen diejenigen vorgegangen, die sich dem Novemberaufstand in Kongresspolen angeschlossen haben. Gleichzeitig hat er das „deutsche Element“ – wie er es nannte – zu stärken gewusst und somit erst den nationalen Konflikt angeheizt.
Auch wenn man über einige historische Inhalte in diesem Beitrag diskutieren kann, steht außer Frage, dass dieser Straßenname besser besetzt sein könnte. Ein Vorschlag wäre – wenn man in diesem historischen Kontext bleiben möchte – die Marcinkoswkistraße.
Dr. Karol Marcinkowski war ein polnischer Adeliger und führender Kopf einer polnischen nationalen Gruppierung („organische Arbeit“), die im legalen Rahmen anstrebte die polnische Bevölkerung durch Bildung zu stärken. Ferner gründete er Institutionen, die Stipendien an junge Studenten vergab und Bauern in wirtschaftlich prekärer Lage unter die Arme griff.
Er war auch nicht nur bei der polnischen, sondern auch bei der deutschen Bevölkerung in Posen beliebt, schließlich konnten auch die Deutschen von den Bemühungen Marcinkowskis profitieren – wenn auch in geringerem Maße.
Die Marcinkowskistraße wäre somit ein geeigneter Name, der im Gegensatz zu Flottwell, die Region besser repräsentieren würden.