Die Straßen im Kiez: Derfflingerstraße

(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck)

Bild 1: Postkarte, Ansicht der Derfflingerstraße von der Kurfürstenstraße (aus: Viktor Otto. Raubmord, Irre, Kunst und Strich. Berlinische Monatsschrift 5; 2000)

„Raubmord, Irre, Kunst und Strich“ betitelte Viktor Otto im Jahr 2000 seinen Bericht über die Derfflingerstraße in der Berlinischen Monatsschrift (1), der Luisenstädter Edition des Traditionsblattes aus Berlin. Das verwundert heute (2021) noch mehr als vor 20 Jahren; selbst der Straßenstrich ist auf dem Rückzug, und die Künstler und Raubmörder suchen sich heute andere Gegenden – es ist noch ruhiger in der Derfflingerstraße geworden. Und wäre da nicht das französische Gymnasium, das 1974  auf dem Gelände zwischen Derfflingerstraße und von-Einem-Straße (seit 2013/2016 Karl-Heinrich-Ulrichs-Straße) einzog und dem zwei noch ruhigere Seitenstraßen, die Buchen- und die Ulmenstraße „geopfert“ wurden (wobei: da war nach dem Bombardement 1944/5 nicht mehr viel zu retten), könnte es fast so idyllisch sein wie vor mehr als 100 Jahren (Bild 1).

Spät, aber nicht zu spät wird die Derfflingerstraße jetzt rehabilitiert: Der Raubmord, der da 1905 hätte stattgefunden, fand in Wirklichkeit im Wannseer Forst statt, der Mörder wohnte in Chorinerstraße 54, und sein Opfer in der Andreasstraße 25 (2), mithin weit weg vom Lützow-Kiez. Und nur Tucholskys 1920 publizierte Polemik gegen Zensur mithilfe eines fiktiven Buchtitel, nämlich „Mein letzter Lustmord. Von Raubmörder Hennig. Eine Aufklärung über die sensationelle Bluttat in der Derfflinger Straße von beteiligter und deshalb berufener Seite“ (3) hat dazu geführt, dass der Raubmord in die Derfflingerstraße verlegt wurde – hier irrte sich Tucholsky. 15 Jahre später mag dies verzeihlich sein, oder er hat – unverzeihlich – jemandem in der Derfflinger Straße eins auswischen wollen, einer verflossenen Liebe, einem bösen Nachbarn, oder er war einfach nur gedankenlos mit ungeahnten Folgen noch 100 Jahre später. Aber dass alle anderen drauf reingefallen sind statt nachzuprüfen, ist schwer verständlich.

Bild 2: Fahndungsplakat von 1906 nach dem Raubmörder Karl-Rudolf Hennig (gemeinfrei, aus: Birett, Herbert: Lichtspiele. Der Kino in Deutschland bis 1914, Seite XCIV, Q-Verlag München, 1994, Kopie von https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Rudolf_Hennig)

Die Geschichte wurde nicht nur 1906 verfilmt – Hennig (Bild 2) hatte noch versucht, seine Geschichte für 1700 RM an den Berliner Lokalanzeiger zu verkaufen. Der wahre Ablauf des Mordes ist gut recherchiert (2), wird aber heute vor allem deswegen diskutiert, weil bei der Verfilmung die Anfänge der Filmzensur durch die Polizei sichtbar wurden.

Die Derfflingerstraße hatte immer schon diese zwei sehr unterschiedliche Seiten, eine idyllische auf der rechten Seite, von der Lützowstraße kommend (nur 12 Häuser, die Nr. 1 bis 12), und eine geschäftige links (28 Häuser, die Nr. 13 bis 30) (s. Bild 1) – der gilt diese Geschichte, die Idylle kommt dann ein andermal. Drei Mietshäuser fallen auf: die Nr. 14 und die Nr. 21, die auch im Verzeichnis der unter Denkmalschutz stehenden Häuser von Berlin enthalten sind, und die Nr. 19a, die seit 1907 der französischen Kolonie gehörte (Hotel de Refuge).

Bild 3: Zwei historische Karten und eine aktuelle Karte (1882 Ausschnitt aus: https://digital.zlb.de/viewer/image/15453195/1/; 1910 und 2020 aus Histomap: http://histomapberlin.de/histomap/de/index.html) der Derfflingerstraße und Umgebung: Rote Punkte markieren die Hausnummer 20 (zur Orientierung), blau markiert ist das Maison d´Orange, grün die beiden französischen Schulen. Man sieht, dass der französische Grundschule (Ecole Voltaire) vor 100 Jahren eine staatliche Gewerbeschule war.

 

Im Jahr 1873 hatten die paar Häuser in der Derfflingerstraße, die es gab, noch keine Hausnummern, erst 1874 sind die Bauplätze offenbar vergeben und durchnummeriert. Das Adressbuch berichtet für 1875 die Nr. 14 (s. oben) als vermietet, das Grundstück mit den Nummern 17-19 als Fabrikgelände (Neander & Kühne, Baugeschäft), und die Nummern 20 und 21 als Baustellen. Das bleibt so bis 1879, dann sind die Nummern 17, 18 und 19 getrennte Grundstücke mit unterschiedlichen Eigentümern: auf 17 wurde gebaut, auf Nr. 18 „sitzt“ ein Bildhauer, und Nr. 19 ist geteilt in 19A (Eigentümer: Böttcher, Maurermeister), Nr. 19 (Eigentümer: Balz, Ratszimmermann) – diese Aufteilung von offensichtlich ursprünglich größer gedachten Grundstücken/Häusern sehen wir auch für die Nr. 20 und 21 (Bild 3).

Das Haus Nr. 14: Das Haus fällt allein schon wegen seiner Farbgebung auf (Bild 4) auf, ein kräftiges orange (zumindest bei Sonnenschein) im grau der Nachbarhäuser. Das Denkmalschutzamt notiert: „Zu den ältesten Gebäuden gehört das Mietshaus Derfflingerstraße 14, das der Eisenbahnbaumeister zur Nieden 1873-74 errichtete. Mit einer ungewöhnlich gestalteten Straßenfront wurde versucht, das Wohnhaus von der üblichen spätklassizistischen Mietshausbebauung abzuheben, musste es doch mit den Villen des Kielganviertels auf der anderen Straßenseite konkurrieren …“ (4), der idyllischen Seite, wie schon gesagt. Julius von und zur Nieden (1837-1910) war zuletzt Oberbaurat bei der königlichen Eisenbahndirektion Berlin, stammte aber aus einer westfälischen Pfarrersfamilie, und das Bauen von Wohnhäusern war weder seine Aufgabe noch seine Haupttätigkeit, schon gar nicht 1873 – aber vielleicht war es seine Passion. Er selbst wohnte in der Köthener Straße 8/9, sein Haus in der Derfflingerstraße 14 hatte über all die Jahre zwischen 5 und 7 offenbar solvente Mieter (oder die von Niedens waren generöse Vermieter), da diese selten wechselten. Und es müssen große Wohnungen gewesen sein, da das Haus nach hinten einen langen Seitenflügel hatte (Bild 4).

Bild 4: Mietshaus Derfflingerstraße 14, gebaut 1873-74, Bauherr Julius zur Nieden (1837-1910), Denkmalliste des Bezirks Berlin-Tiergarten: 09050311; fotographiert 2012 von Karo (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:09050311_Berlin_Tiergarten,_Derfflingerstraße_14_003.jpg)

Nach dem Tod des Oberbaurates 1910 zog seine Witwe Elise, geb. Schneider in das Haus; sie starb 1945 in Heilbronn, im Alter von 96 Jahren, das Haus blieb aber im Besitz der Familie bis nach dem Krieg und wurde von Alfred, einem der beiden Söhne, verwaltet – der brachte es bis zum Polizeipräsidenten von Lübeck.

Das Haus Nr. 19a: Das Haus war 1879 fertig und gehörte dem Maurermeister Böttcher, es wohnten 13 Parteien in dem Haus – also deutlich mehr als in dem annähernd gleichgroßen Haus Nr. 14 – , bis 1885 gehört es dem Maurermeister (es war offensichtlich seine Rente). Für die nächsten 15 Jahre war seine Witwe eingetragen, die es 1890 an den Kaufmann (später: Banquier=Bankier) Zeeden verkaufte, und ab 1906 gehörte es als sogenanntes Hotel de Refuge der Französischen Kolonie von Berlin.

Die Geschichte des Hotel de Refuge hängt eng mit der Einwanderung französischer Hugenotten (reformierte Protestanten) zusammen. Diese kamen ab 1699 nach dem Edikt von Potsdam (1685) des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg wegen religiöser Verfolgung einerseits und andererseits aus der Schweiz, wohin sie geflohen waren, nach Brandenburg. So trugen sie zum Wachstum des durch den 30-jährigen Krieg weitgehend entvölkerten Brandenburg („Peuplierung“)bei. „Es waren dadurch etwa 3000 Personen der französischen Kolonie zugesellt. Für die Kranken, Greise und ganz Mittellose von denen, die in Berlin geblieben waren [die übrigen wurden auf Orte in Brandenburg verteilt: Halberstadt, Neuhaldensleben, Bernau, Oranienburg, Magdeburg, Burg u.a.m.] wurde auf Antrag der Kommission unter dem Namen Maison de Refuge ein Haus in der Friedrichstadt gegründet, worin sie Aufnahme finden konnten“ (5) – also eine Art Asylhaus, ähnlich dem 1704 gegründeten Maison d´Orange in der Friedrichstadt für die mehr als 1000 geflüchteten Hugenotten aus der französischen Provinz Orange – das Maison d´Orange zog 1883 in die Ulmenstraße (s. Bild 3). Zu dieser Zeit waren das Hotel de Refuge wie das Maison d´Orange natürlich keine Asylheime mehr, sondern soziale Institutionen der französischen Gemeinde, die ihr Geld in Immobilien anlegten – woraus sich die Präsenz des französischen Gymnasiums in der Derfflingerstraße 7 und der französischen Grundschule in der Kurfürstenstraße 53 von heute erklären (s. Bild 3).

Prominenteste Bewohnerin des Hausers Nr. 19A war sicherlich Charlotte von Bülow, geb. von Oppeln-Bronikowski (1817-1908), eine in Erfurt geborene und seit 1832 in Berlin lebende und an der Berliner Singakademie ausgebildete Künstlerin und Komponistin (6) aus adligem Haus. Sie hatte 1854 den „Wirklich Geheimen Legationsrat Ernst Carl Leopold von Bülow“ (1803-1885) geheiratet; dieser bombastisch klingende Titel war Teil der preußische Auszeichungsmasch(in)e in der Beamtenschaft: erst Ernennung zum Legationsrat, dann die ganz öffentliche und überhaupt nicht geheime Ernennung zum Geheimen Legationsrat, und schließlich deren nochmalige Steigerung, der Wirklich Geheime Legationsrat, immer noch sehr öffentlich – und die Ernennungspatente kann man heute im ebenfalls öffentlichen Geheimen Staatsarchiv einsehen. Ernst von Bülow war ein im Auswärtigen Amt Preußens und nachfolgend des Deutschen Reiches tätiger Beamter und ein vergleichsweise kleines Licht im Adelsgeschlecht derer von Bülows, deren prominentester Vertreter in dieser Zeit (um 1900) sicherlich Reichskanzler Bernhard von Bülow (1849-1929) war, während seine Frau eine wirkliche Prominente im Musikbetrieb von Berlin in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellte. Die Witwe verkaufte nach seinem Tod 1885 ihr Haus am Schöneberger Ufer 22 und zog in die Derfflingerstraße, wo sie 1908 verstarb.

Das wechselhafte Schicksal des Hauses Nr. 21 aber ist eine eigene Geschichte wert und soll an anderer Stelle erfolgen: Miethaus, Anbau durch die renommierten Architekten Alfred Breslauer und Alfred Salinger und Privatklinik des Chirurgen Prof. Unger, Notlazarett im 1. Weltkrieg, Verwaltungsgebäude der nationalsozialistischen Reichsfrauenschaft bis 1945, Neurologisch-Psychiatrische Klinik des Krankenhauses Moabit nach dem 2. Weltkrieg und Studentenwohnheim seit 1990.

 

Literatur

  1. Viktor Otto. Raubmord, Irre, Kunst und Strich. Berlinische Monatsschrift 5; 2000.
  2. Hugo Friedländer. Der Raubmörder Hennig. Berlin 1910 (bei Apple Books: https://books.apple.com/us/book/werke-von-hugo-friedländer/id660309104)
  3. Ignaz Wrobel [d.i. Kurt Tucholsky], Das politische Feigenblatt, in: Tucholsky, Gesamtausgabe Bd. 4: Texte 1920, hrsg. von Bärbel Boldt, Gisela Enzmann-Kraiker und Christian Jäger, Reinbek 1996, S. 231-233, hier: S. 232; auch unter: https://tucholsky.de/das-politische-feigenblatt/
  4. https://www.berlin.de/landesdenkmalamt/denkmale/liste-karte-datenbank/denkmaldatenbank/daobj.php?obj_dok_nr=09050311
  5. Eduard Muret. Geschichte der französischen Kolonie Brandenburg-Preußen unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Gemeinde. Aus Veranlassung der zweihundertjährigen Jubelfeier am 29. Oktober 1885. W.Bürgenstein, Berlin, 1885, S. 31
  6. https://mugi.hfmt-hamburg.de/old/A_lexartikel/lexartikel.php%3Fid=buel1820.html,

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