als die Potse noch ein Feldweg war
(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck)
Über die Potsdamer Straße (oder Allee oder Chaussee, je nach Zeit und Ort) gibt es viele Geschichten, und sie sind in Büchern erzählt worden (1), aber die meisten spielen in der Zeit, als Berlin bereits über seine südliche Grenze (den Schafgraben) schwappte und nach Schöneberger Gelände gierte, also in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts; und diese Geschichten erzählen von „Millionenbauern“, der Kunst- und Literatenszene, dem Geldadel, dem Eisenbahn- und U-Bahn-Bau und von „Sex and Crime“. Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, ist dagegen älter und spielt zum Ende des 18. Jahrhunderts, als die „Potse“ noch ein Feldweg war.
Aus Berlin kommend (Bild 1) lag jenseits der Schafbrücke zur Linken seit 1754 die Kattunbleiche einer böhmischen Webervereinigung (Kubasek & Cie.), die dieses Gelände vom Dorf Schöneberg im Austausch gegen ein anderes Stück Land bekommen hatte; später wird hier das Karlsbad entstehen (s. mitteNdran vom 11.11.2020). Die Gärten auf der rechten Seite der Chaussee waren Gemüsegärten, die zu einer der vielen Gärtnereien gehörten, die Berlin versorgten. Später (1837) wird hier das Elisabeth-Krankenhaus entstehen, und an der Ecke Potsdamer Straße/Schöneberger Ufer wird zunächst ein Holzplatz, dann ein Landwirtschaftliches Museum und schließlich eine Synagoge entstehen, die dann wiederum von einem Wohnblock ersetzt wird, aber das dauert alles noch.
An der Kreuzung des Lützowerwegs (heute: Lützowstraße) mit der Potsdamer Chaussee fand 1795 eine interessante Gelände-Rochade statt: Das Land zur Rechten der Allee nach Potsdam gehörte unter anderem einem Berliner Baurat und Oberhofbankier, Isaak Daniel Itzig, der Sohn des Bankier Daniel Itzig aus Berlin. Dieses Grundstück hat der Landvermesser Guichard vermessen (Bild 2), vor allem wohl, um die damit verbundenen Abgaben an den Fiskus zu legitimieren. Itzigs Anteil betrug 2/3 Morgen, 120 Quadrat-Ruten, ca. 3700 qm.
1 (preußische) Morgen (M) = 300 Quadrat-Ruten (QR) = ca. 5200 qm
1 Rute = 15 Fuß, 1 Fuß = 12 Zoll, 1 Zoll = 2,4 cm; 1 QR = ca. 17,4 qm
1 Friedrich d´or (Goldtaler) = 5 Reichstaler (Rt) oder Silber-Taler (Taler-Courant),
1 Rt (Reichstaler) = 24 gute oder Silber-Groschen (Sgr), 1 Sgr = 12 Pfennig (Pf) (ab 1750)
„Isaac Daniel Itzig (1750-1806) war der älteste Sohn Daniel Itzigs. Unter Friedrich Wilhelm II. begann er erstmals eine selbständige geschäftliche Rolle zu spielen: Zunächst als Kronprinzlicher Hofbankier und nach der Thronbesteigung (1786) als Oberhofbankier. … Isaac Daniel Itzig war in erster Ehe ab 1773 mit Hanne Ephraim, der Tochter des Geschäftspartners seines Vaters Veitel Ephraim, verheiratet. Nach deren Tod im Jahre 1777 ehelichte er seine Cousine mütterlicherseits, Edel Wulff. Gemeinsam mit seinem Schwager David Friedländer gründete er 1778 in Berlin eine Jüdische Freischule, die auch Kindern aus armen Familien neben der religiösen eine weltliche Bildung ermöglichen sollte. Bis zu seinem Tod im Jahre 1806 war er auch der Direktor und vor allem der Finanzier der Schule“ (2) (Bild 3).
Itzigs Stück Land gehörte zu einem Krug- und Freigut (455 M, 32 QR im Jahr 1763) mitten in Alt-Schöneberg, gegenüber der alten Dorfkirche, das seit dem 14. Jahrhundert existierte, mit wechselnden Besitzern, aber immer mit dem Schankrecht verbunden war – auf dem basierte im 20. Jahrhundert letztendlich die Schöneberger Schloss-Brauerei. Im Jahr 1777 wurden Freigut und „Schankgerechtigkeit“ allerdings geteilt, das Gut ging 1777 für 6750 Reichstaler an einen Samuel Ernst Schwartz aus Danzig. Zehn Jahre später wollte der verkaufen – diesen Verkauf hatte Itzig vermittelt, dann kaufte er nach einigem Hin und Her (Schwartz verkaufte für 8000 Rt, kaufte dann zurück, um 3 Monate später erneut zu verkaufen) selbst dieses Stück (auf den Namen seiner Frau – er war schließlich in königlichen Diensten) für 10.000 Rt, einschließlich Haus, Mobiliar und Getreidevorrat. Das Bauerngut hatte auch 70 Jahre später, 1845, noch 238 Morgen an Äckern und Wiesen. Die fiskalen Abgaben betrugen 27 Rt 19 Sgr (3) – lächerlich wenig, wenn man bedenkt, dass die Firma Kubasek und Compagnie für die nur 19 Morgen ihrer Kattunbleiche am Karlsbad mehr bezahlte, nämlich 31 Rt 13 Sgr. Das Freigut wurde schließlich 1896 für 16.000 Rt verkauft.
„Das Generaldirektorium [eine 1723 geschaffene zentrale Verwaltungsbehörde, PE] bezweifelte, ob Itzig Immobilien auf dem platten Land erwerben könne, Itzig aber sagte, dass seinem Vater die christlichen Rechte für sich und seine Nachkommen Allerhöchst verliehen worden seien, daß Se. Majestät von den Ankäufen wisse und nichts dagegen einwende … Am 17. März 1788 ergeht jedoch eine Cabinettsordre, daß die dem Itzig zugebilligte Genehmigung ohne Consequenz für die übrigen Juden sein solle“ (3).
Und so kaufte nicht nur der Vater Immobilien, sondern auch der Sohn. Der ging sogar noch einen Schritt weiter und machte daraus einen Beruf: er wurde Bankier und (beamteter!) Baurat des Königs und damit beauftragt, von den Bauern Land zu erwerben zur Anlage der ersten – und weiterer – preußischer Kunststraßen (Alleen): Der Plan eines Systems von Städte verbindenden Alleen entstand unter Friedrich Wilhelm II (Regierungszeit 1786-1797). im Zuge des Ausbaus überregionalen Handelns und Warenaustausches (4) – und zur bequemeren Heimreise des Königs nach Potsdam, wenn er Berlins wieder überdrüssig wurde – was oft der Fall war. Gleichzeitig fungierte Itzig als Unternehmer, organisierte z.B. die Lieferung von Baumaterialien für den Straßenbau auf eigene Rechnung, finanzierte vor und trieb das Projekt voran (5).
Dabei „verzockte“ sich Isaac Daniel Itzig und sein jüngerer Bruder Benjamin Daniel, mit dem er die Firma Itzig & Co. betrieb und die in großem Stile Kredite an den deutschen, aber auch nicht-deutschen Adel vergaben, die vielfach nicht oder zu spät zurückgezahlt wurden. „Als die französische Regierung einer Zahlungsverpflichtung von 680.000 Talern für 8.833 gelieferte Pferde nicht nachkam, musste „Itzig & Co.“ am 13. März 1796 Insolvenz anmelden … Den Kuratoren zufolge belief sich die Summe aller Forderungen auf insgesamt 1.298.860 Taler“ (6). Isaac Daniel kam zwar nicht in Schuldhaft, aber er verlor sein gesamtes Vermögen und zog er sich mitsamt Familie verarmt auf ein Gut seines Vaters zurück, wo er 1806 verstarb, während Bruder Benjamin Daniel fortan als Rentier im Haus seines Schwiegervaters in Frankfurt/Oder lebte.
So entstand also die erste Allee von Berlin nach Potsdam. Im Jahre 1788/9 wurde der erste Abschnitt zwischen Berlin und Schöneberg eröffnet, der letzte Abschnitt von der Glienicker Brücke bis nach Potsdam wurde 1795 fertiggestellt. Chausseen wurden nach einem standardisierten Bauschema erstellt (4), sie waren 15,7 m breit (7,5m Steinbahn, 6,3 m Sommerweg auf der einen und 1,9 m Bankett auf der anderen Seite) und (später) mit einer Pflasterung ausgestattet, eingefasst von Bäumen (erst Pappeln, später Eichen, dafür wurden sogar Baumschulen entlang der Strecke angelegt), aber vor allen Dingen mit regelmäßigen Mautstationen (alle 7,5km = 1 preußische Meile, Bild 4), an denen eine Nutzungsgebühr zu bezahlen war (im Mai 1790: Pferdekarre, je Pferd und Meile 1 Sgr, Extrapost mit Passagieren und 2 Pferden: 9 Pf je Meile; reitende Pferde mit dem Reiter – Offiziere sind frei: 3 Pf je Meile; Rindvieh zum Verkauf: 2 Pf je Stück (4)). Die erste Mautstation nach Verlassen der Berliner Stadtgebiete, jenseits des Schafgrabens also, war daher die am Lützowerweg, wo Baurat Isaac Daniel Itzig 1793 einen halben Morgen seines Landes an den König verkaufte (für stolze 250 Goldtaler) – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Dort wurde ein sogenanntes „Chausseehaus“ für den Wächter eingerichtet (s. Bild 2). Dieser Ausgang der Stadt war außerdem von Soldaten bewacht und wurde nachts geschlossen: Es diente vor allem der Kontrolle der Ein- und Ausfuhr von Waren, für die Steuer (Akzise) erhoben wurde, nebst der Straßen-Nutzungsgebühr.
Zwei Jahre später (1795) beantragte der geheime Kammergerichtsrat Heinrich Ludwig von Warsing (1750-1817), das neben Itzig liegende Grundstück des Schulzen Willmann (von 1 M 151 QR) zu erwerben (s. Bild 2), gegen eine Erbpacht von 20 Rt jährlich – der König genehmigte. Dann wollte von Warsing auf seinem neuen Grund ein Haus bauen, fand aber, dass das zu tief läge, und beantragte, auf Itzigs Grund, das höher lag, bauen zu dürfen, auch weil dadurch und wegen der Nähe zum Chausseehaus sich seine Sicherheit erhöhe – Itzig war einverstanden, und der König bewilligte ihm in Erbpacht einige weitere 146 QR (ca. 2500 qm) Land „rechter Hand an der Ecke der Chaussee, am Lützower Wege“ gegen nur 7 Rt jährlich, da die Gemeinde Schöneberg darauf noch Weiderecht hatte – ein echtes Schnäppchen. Und so hatte sich auch von Warsing einen Teil des Kuchens, ein Eckstück, gesichert, bevor der Sturm auf die Schöneberger Ländereien jenseits der Grenze der expandierenden Stadt Berlin losging – wohl dem, der wusste, woher der Wind weht.
Das Chausseehaus aber stand viele Jahre dort, auch als die Potsdamer Chaussee zunehmend besiedelt wurde, das Krankenhaus entstanden war (1837), und der Lietzower Weg erst zur Lützowerwegstraße und schließlich zur Lützowstraße wurde (s. mitteNdran vom 3. Juni 2020). Aber nach der Eingemeindung dieses Teils von Schöneberg nach Berlin (1862) wurde die Chausseestation an die Grunewaldstraße verlegt, und am 31.12.1874 wurde auf allen Chausseen in Preußen, die es bis dahin gab (etwa 3900 km), die Erhebung der Gebühr eingestellt (4) – inzwischen hatte sich das Eisenbahnsystem für den Güter- und Personen-Transport (seit 1838) als überlegen, weil schneller und günstiger erwiesen, auch wenn die Skepsis des Königs und der Widerstand der Fuhrleute anfangs sehr hoch war – aber das ist eine andere Geschichte.
Literatur
- Sibylle Nägele, Joy Markert. Die Potsdamer Straße. Geschichten, Mythen und Metamorphosen. Berlin, Metropol-Verlag 2006
- https://www.uni-potsdam.de/de/haskala/haskala-in-biographien/isaac-daniel-itzig
- Wilhelm Feige. Rings um die Dorfaue. Ein Beitrag zur Geschichte Schönebergs. Berlin-Schöneberg und Leipzig, Verlag Theodor Weicher 1937
- Herbert Liman. Preußischer Chausseebau. Meilensteine in Berlin. Berliner Hefte 5. Berlin, Bauverlag, 1993
- Karoline Cauer. Oberhofbankier und Hofbaurat. Aus der Berliner Bankgeschichte des XVII. Jahrhundert. Frankfurt, Institut für Bankhistorische Forschung e.V. 1965
- Thekla Keuck. Hofjuden und Kulturbürger. Die Geschichte der Familie Itzig in Berlin. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2011.