Mit dieser Übersicht beginnen wir eine neue Serie von Geschichten aus dem Lützow-Viertel, die Erziehung und Wissenschaft zum Thema haben, nicht heute, sondern „damals“, im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir beginnen mit der ersten höheren Mädchenschule in Berlin, die Mädchen auf ein Universitätsstudium vorbereiten sollte, dem 1869 gegründeten Victoria-Lyzeum in der Potsdamer Straße 39, (heute 98A, wo im EG die Druckerei p98A ist und darüber die Stiftung Camaro) (Bild 1). Gründerin dieser privaten Schule war die schottische Lehrerin Georgiana Archer (1827-1882), und unterstützt wurde das Vorhaben von der Kronprinzessin Victoria (1840-1901) aus dem englischen Königshaus, die 1858 den Kronprinzen Friedrich Wilhelm und späteren preußischen König und Deutschen Kaiser Friedrich III. (1831-1888) geheiratet hatte – der nach 99 Tagen im Amt verstarb. Sie blieb – allen preußischen, anti-britischen Ressentiments zum Trotz – „Kaiserin Friedrich“ bis an ihr Lebensende und setzte sich weiterhin für Mädchenbildung ein. Das Lyzeum blieb an diesem Ort bis 1906.
Das erste städtische Gymnasium im Lützow-Viertel – natürlich nur für Jungen – lag nur wenige Meter weiter und war durch eine Mauer vom Lyzeum getrennt, an der Lützowstraße 84. Hier war 1880 das „Falk-Realgymnasium“ gegründet worden (Bild 2), benannt nach dem preußischen Kultusminister Adalbert Falk (1827-1900). Der erste Direktor der Schule war von 1880 bis 1996 Dr. Franz Theodor Bach (1833-1897), und unter seiner Leitung entwickelte sich die Schule zum Vollgymnasium mit praktischer Ausrichtung (deswegen: Real-Gymnasium). Das Gymnasium blieb hier bis 1945. Einen, vielleicht den besten, Schüler der Schule werden wir in dieser Serie von Geschichten noch kennenlernen (siehe unten).
Auf dem langen Grundstück zwischen Lützowstraße und Steglitzer Straße (heute: Pohlstraße), an dessen einem Ende das Falk-Realgymnasium lag, war auf der anderen Seite (Steglitzer Straße 29) seit 1879 die Charlotten-Mädchenschule, die dritte Schule in diesem Block (Bild 3), durch eine hohe Mauer von der Jungenschule getrennt – Koedukation war noch ein Fremdwort. Im Jahre 1893 wurde die Mädchenschule zum Mädchen-Gymnasium, also zur ersten öffentlichen Mädchenschule, die auf das Studium vorbereitete – das Victoria-Lyceum war noch eine reine Privatschule gewesen. Dass dies innerhalb weniger Jahre passierte, war vor allem das Verdienst von Helene Lange (1848-1930), einer Politikerin, Pädagogin und Frauenrechtlerin der ersten Stunde, der wir ein eigenes Kapitel widmen wollen.
Neben diesen drei Schulen gab es einige Gemeindeschulen, die später Volksschulen und heute Grundschulen heißen, aber im Unterschied zu den „höheren“ Schulen wissen wir von diesen zumeist wenig, weder Absolventen noch Lehrpläne und Lehrerkollegien, weil sie keine jährlichen Schulberichte an das Kultusministerium abliefern mussten, die heute als Quellen für Forschungen dienen. Dafür gibt es im Lützow-Viertel drei französische Schulen, die Vorschule (École Maternelle), die Grundschule (École Voltaire) und das französische Gymnasium (École Française) – aber wie kommen die eigentlich in dieses Viertel? Wann sie ins Viertel gekommen sind, ist die einfache Frage: nach dem 2. Weltkrieg, genauer im Jahr 1974, aber französische Schulen gab es in Berlin schon seit 1689 (Bild 4). Wir werden ihre Geschichte nachzeichnen.
Diese Serie wäre unvollständig, würden wir uns nicht mit eindrucksvollen Persönlichkeiten beschäftigen, die diesem Erziehungssystem entstammen und/oder die dieses System geprägt haben. Der vielleicht beste Schüler des Falk-Gymnasiums trägt unglücklicherweise einen sehr belasteten Namen: Der Astrophysiker und Astronom Hans Ludendorff (1873-1941) (Bild 5) war der jüngere Bruder des Generals Erich Ludendorff (1865-1937), völkischer, nationalsozialistischer Politiker und Beteiligter am Kapp- und Hitlerputsch 1920 bzw.1923. Er – und nicht etwa sein jüngerer Bruder – war Namensgeber der Ludendorff-Straße, als die Steglitzer Straße 1937 umbenannt wurde. Vielleicht rehabilitiert unsere kleine biografische Skizze von Hans Ludendorff den Nachnamen ein wenig.
Die zweite Persönlichkeit, die wir hier vorstellen wollen, ist Helene Lange (1848-1930) (Bild 6), die erste Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins (ADLV), der seinen Sitz am Schöneberger Ufer 37 hatte. Helene Langes politischem Einsatz war es wesentlich zu verdanken, dass Mädchenbildung selbst an höheren Schulen sich nicht länger auf hausfrauliche Fertigkeiten und allgemeinbildende Kenntnisse beschränken musste, sondern mit dem Abitur endete und den Mädchen und jungen Frauen erlaubte, ein Studium anzustreben – auch wenn die Zulassung an den Universitäten keineswegs bereits überall möglich war. An der Kunstakademie beispielsweise hat dessen Direktor, Anton von Werner (1843-1915), dies bis zu seinem Tod verhindert. Das Helene-Lange-Archiv im Landesarchiv Berlin ist heute eine Fundgrube für historische frauenrechtliche Fragen und Recherchen.
Und schließlich wollen wir hier einen weiteren Wissenschaftler vorstellen, der zwar nicht im Lützow-Viertel ausgebildet wurde, aber hier viele Jahre gelebt hat, den Physiker Arnold Berliner (1862-1942) (Bild 7) aus der Kielganstraße 5. Er reiht sich ein in die Liste vieler Gelehrter im „Geheimratsviertel“, wie die Friedrichsvorstadt oft genannt wurde, die Gegend nördlich und südlich des Landwehrkanals: Rudolf Virchow und sein Sohn Hans Virchow (Blumeshof), das Ehepaar Cecile und Oskar Vogt (Magdeburger Straße), Elena und Nikolai Timofeeff-Ressovsky (Magdeburger Straße), Bernhard Pollack (Blumeshof), Paul Magnus (Blumeshof), Isidor Rosenthal (Blumeshof), Carl Scheibler (Buchenstraße), Ernst Unger (Derfflingerstraße), Paul Hirsch-Mamroth (Lützowplatz) und Moritz Borchard (Dörnbergstraße) sind uns in den Geschichten aus dem Lützow-Viertel schon begegnet oder werden uns noch begegnen.