26.–28.4.2019
ein Beitrag von Heidrun Abraham
Jeden Tag rauschen in mich Veranstaltungshinweise hinein und wieder raus. Oh, das klingt aber interessant! Soll ich …? Und schon: Verpasst. Na und? Kein‘ Stress! Ich zucke deswegen nicht mal die Schulter, so ist das halt, wenn man in der Hauptstadt lebt. Aus der Fülle der Berlin-Events ragen für mich nur zwei feste Größen heraus: die Berlinale im Februar und das Gallery Weekend im Mai. Karneval der Kulturen gehörte mal dazu, ist aber nicht mehr so meins, dafür kristallisiert sich allmählich das Radio Eins Parkfest im Gleisdreieck-Park hervor bzw. hinauf in den Rang der „Unverpassbaren“. Diese Events sind fußläufig von meiner Wohnung. Ich bin ja insofern gut assimiliert, als der Berliner an sich seinen Kiez nur ungern verlässt.
Ich mag es, wenn am Potsdamer Platz im Februar hauptsächlich „Cineasten mit Hornbrillen“ unterwegs sind, statt des sonst üblichen Shopping-Publikums aus Brandenburg, Marzahn oder westdeutscher Provinz. Alles scheint zur Berlinale wie verwandelt … Einfach nur Kaffeetrinken und die Szenerie genießen, Leute gucken, wie sie ihre gebildeten Nasen in Programmhefte stecken und dazu in allen Sprachen dieser Welt parlieren, macht schon Spaß. Meist gucke ich dann noch 3 bis 4 abseitige Filme, gezielt aus meinem jeweiligen Lieblingsland (früher Indien, inzwischen Rumänien). Und gelegentlich stiebt beinahe unerkannt ein Schauspieler aus einem Fatih-Akin-oder-so-Film mit hochgeschlagenem Trenchcoatkragen durchs unwirtliche Schneegestöber. Nur am lakonischen, etwas zu tief in die Augen schauenden Erkennst-du-mich-?-Blick merkt man, dass es wieder einer war.
Aber nun naht – wie jedes Jahr exakt zeitgleich mit dem Jetzt-endlich-wirklichen-Vorsommer-Frühling – das Gallery Weekend. Zwar eine berlinweite Wochenendveranstaltung, jedoch am Freitag Abend scheint das Epizentrum allein an der Potsdamer Straße zu liegen, die dann vor sich entlang-, hinein- und hinauswalzenden Kunstinteressierten kaum wiederzuerkennen ist. Jedesmal ein Fest! Abhängen, open air trinken und mit Freunden quatschen in den sog. Mercator-Höfen, Potse 77–87, (für mich immer noch „der Tagesspiegel-Hof“, wenn auch der Tagesspiegel schon vor Jahren ausgezogen ist), dabei die Szenerie genießen und Leute in ambitionierter Kleidung gucken, wie sie ihre gebildeten Nasen in Programmhefte stecken und dazu in allen Sprachen dieser Welt parlieren, macht schon Spaß. Soundtrack: babylonisches Gemurmel mit akzentuierten Zischlauten.
Highlights sind für mich immer diejenigen Orte, die speziell und nur zum Gallery Weekend öffnen, und das vielleicht nicht mal jedes Jahr. Einmal landete ich auf der Besetzungscouch der renommierten Agentur Tröber-Casting, Potse 83, was ich aber erst nach ein paar gemütlichen Stunden an hervorragendem Wein, Brot und Käse (und Kunst!) herausfand, im Gespräch mit einer sympatischen Dame im Leoparden-Bademantel, in das uns ihr charmantes Hündchen verwickelte und die sich schließlich als die generöse Gastgeberin herausstellte. Illustre B-Promis aus Germany‘s Next Top Model vollendeten den Rahmen. Extrem geflasht hatten mich auch die Privatwohnungen über der Victoria Bar in der Potse 102, die ihre geräumigen Altbau-Zimmerfluchten leergeräumt und Kunst reingeräumt hatten und all die wildfremden Gäste durch ihre Riesen-Flügeltüren passieren ließen und Kunst genießen hießen. In einer Badewanne auf Füßen lag ein Mann – in einer Kammer. War der echt? Wir schoben uns weiter in die hochstylische Küche mit schwarzen Wänden und morbider Blumendeko. Wow … ist ja fast schon New York!
Da zu diesem Zeitpunkt alle Lokale an der Potsdamer stets heillos überfüllt sind, endeten wir an einem dieser gloriosen Freitag-Gallery-Weekend-Abende im Keller der Karakas Bar, Kufü 8, und absackten in den gemütlichen Ledersofas, bei Pernod oder Sambuca, urplötzlich über Religion sinnierend (er: inzwischen wieder katholisch, sie: Tochter eines Agnostikers, ich: Ex-Teenager-Freichrist). Hm … damals war ich noch Raucher … gemütlich indoor-quarzend holte ich mir aber schon Nichtraucher-Tipps für‘s Aufhören.
Highlight im letzten Jahr war der Ausblick von der Dachterasse der Agentur artek, Potse 87: vom höchsten Turm im Kiez mein Schlafzimmerfenster spotten und auch die Fenster von Frankie, Christinchen, Sylvie usw. Weitere Dachterrassen von oben suchen, unter einem strahlenden Frühlingshimmel mit wild zerzaustem Wolkenpanorama, grandiose Aussicht, die man sonst nie hat. Best Kiez ever! Noch ganz bezaubert nahm ich das Treppenhaus nach unten, zum Eindrücke abklingen lassen … waren das wohl 18 Stock zu Fuß? Das gehörte zu meinem ganz privaten Rundgang am Sonntag, während ich Samstag Nachmittag jedes Jahr bei meinen Künstler- und Kunsthandwerksfreunden in den U-Bahnbögen der Pohl 11 vorbeischaue. Das Wetter ist am letzten Aprilwochenende IMMER sonnig, und im Hof hinter der in die Erde verschwindenden U-Bahn staunt man über das ungewohnte Grün, üppig blühende Kastanien und rankenden Wein – versteckte Oase! Wunderschön. Hier schauen alle Nachbarn früher oder später vorbei und ich stelle ab 15 Uhr gerne einen Biertisch zum Verweilen auf, wo jeder sich mit einem Snack dazusetzen kann und mit anderen plaudern, über Kunst oder Stadtteilentwicklung. Einfach nur die Szenerie genießen und Leute mit kunstbeflissenen Gesichtern in den Sprachen dieser Welt fragen hören: „Oh! Please, who do I have to ask to rent one of the Ateliers here?“ Freundlich antworten „No chance, sorry, currently, no space for rent“ , und die Szenerie weiterziehen lassen, macht schon Spaß. Mal sehen, was es in diesem Jahr wieder Erstaunliches zu Erstöbern gibt …