Geschichten von Handel und Gewerbe im Lützow-Viertel 3
(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com)
Die Geschichte des Günther Heinrich Jungbluth genannt Einicke ist – biografisch gesehen – sicherlich eine der auffälligsten gewesen, die uns bislang im Verlauf der Recherchen begegnet ist: Heinrich Jungbluth, der Sohn eines Bauern aus dem Thüringischen, kommt als 11-Jähriger 1820 nach Berlin und lernt bei seinem Onkel Johann Friedrich Einicke in der Dorotheenstadt das Schmiedehandwerk, studiert an der Tierhochschule (die damals Tierarzneischule hieß) und wird Tierarzt, betreibt dann eine Fabrik für Eisenbahnwaggons in der Schöneberger Vorstadt, und stirbt als reicher Pensionär 1882 in Thüringen (Bild 1). Wir werden ihn in dieser langen Geschichte nur ein Stück begleiten, nämlich nach dem Umzug der Familie von der Dorotheenstraße über den Landwehrkanal an die Potsdamer Chaussee im Jahr 1837.
Der Schmied & Tierarzt Jungbluth genannt Einicke
Der am 10. November 1809 in Buhla bei Nordhausen geborene und 1829 frischgebackene Tierarzt und Schmied ließ sich in Berlin nieder und übernahm die Schmiede seines Ziehvaters in der Dorotheenstraße 22, die damals noch Mittelstraße hiess. Am 12. Januar 1834 heiratete er „mit Einwilligung der Mutter (in einem Briefe) / 25 Jahre / noch nicht verheiratet gewesen, die Jungfer Auguste Johanne Wilhelmine Einicke / aus Egeln [bei Magdeburg] / des Thierarztes Martin Einicke eheliche älteste Tochter / 23 Jahre / hat schriftliche Einwilligung des Vaters / noch nicht verheiratet“ – so das Kirchenbuch der Dorotheenstädtischen Kirche Berlin. Auch die Braut kam offenbar aus der Familie der Schmiede und Tierärzte Einicke – die Heirat fand in Berlin statt und nicht am Geburtsort der Braut bzw. dem Wohnort der Eltern, was üblich gewesen wäre. In der Folge (zwischen 1834 und 1851) hatte das Paar zehn Kinder, vor denen neun das Erwachsenenalter erreichten.
Umzug in die Schöneberger Vorstadt
Der Ziehvater Johann Friedrich Einicke, so weist das Adressbuch von Berlin aus, war Eigentümer des Hauses in der Dorotheenstraße 19, wohnte aber ab 1839 zusätzlich (und vermutlich vornehmlich im Sommer) an der Potsdamer Chaussee 40a, wobei dies die alte Nummerierung des Schöneberger Katasters war. Nach Umbenennung der Chaussee in Potsdamer Straße im Jahr 1841 wurde es die Hausnummer 30, wo die Einickes Land ausweislich der Katasterbücher von Alt-Schöneberg von den Bauerngütern des Baron von Lowtzow und den Bauerngütern Willmann und Richnow abgezweigt und in Erbpacht übernommen hatten (1). Das sollte offenbar ihr Ruhesitz werden.
Johann Friedrich Einicke starb aber bereits am 26. Oktober 1840 an Lungenschlagfluß (Blutstau in den Lungen) im Alter von 66 Jahren, er hinterließ die Witwe, der Ziehsohn ist im Kirchenbuch nicht erwähnt. Die Schöneberger Niederlanden, wie das Gebiet rechts der Potsdamer Straße, von Berlin kommend, auch genannt wurde, galt um diese Zeit als eher ungesund. Auch seine Frau, die Witwe Sophie Wilhelmine geborene Bauersfeldt starb einige Jahre später – mit 70 Jahren und 10 Monaten am 10. Juli 1848 an Lungenlähmung. Beide Diagnosen sagen, typisch für die Zeit, nichts über die Ursache der Krankheit aus, sondern beschreiben nur Symptome.
Der Tierarzt und Schmied Heinrich Jungbluth genannt Einicke findet sich ab 1837 in der Dorotheenstraße und nach 1847 ist er Besitzer einer Eisenbahnwaggonfabrik in der Potsdamer Straße 30. Diese Adresse variierte in den nächsten Jahren, weil offenbar die Straßenbezeichnungen nicht festgelegt waren und das Gelände mehrere Zugänge hatte (Bild 2). 1848: Fabriklokal: Potsdamer Str. 30, auch Lützowerwegstr. 40E; 1849 und 1850: Eingang am Landwehrgraben; 1851-1856: Schöneberger Ufer, nahe der von der Heydt Brücke – es handelt sich immer um die gleichen Adressen: Wohnhaus auf der Potsdamer Straße 30, Fabrikgebäude hinter dem Elisabeth-Krankenhaus etwa da, wo einige Jahre später die Magdeburger Straße (heute: Kluckstraße) entstand.
Eisenbahnbau und Eisenbahnwaggonbau
Das Bild 2 zeigt das, was der Schriftsteller Pietsch in seinem autobiografischen Roman „Wie ich Schriftsteller wurde“ (2) beschrieben hat: Die Eisenbahnwaggonfabrik des Heinrich Jungbluth nahm offenbar fast die gesamte Länge der heutigen Kluckstraße vom Schöneberger Ufer bis zur Lützowstraße ein, wobei dies laut Pietsch ein Feldweg war, an dem wenige weitere Häuser standen, bis nach Schöneberg. Heinrich Jungbluth produzierte hier zwischen 1846 und 1856 Eisenbahnwaggons für die gerade erst (1838) entstehende Eisenbahn, die erste in Preußen von Berlin nach Potsdam, die 1846 weiter nach Magdeburg verlängert wurde.
Der Beginn des Eisenbahnzeitalters begünstigte bei einer Reihe von bisherigen Handwerksbetrieben die schnelle Weiterentwicklung zu industrieller Produktion, und Schmiede machten den Anfang, z.B. Borsig, der zunächst Schrauben für die Befestigung der Schienen an den Holzschwellen lieferte, aber nach einiger Zeit die Lokomotiven selbst baute. Waggons insbesondere für den Personentransport ähnelten anfangs sehr stark den Kutschen, was in der Anfangsphase des Eisenbahnverkehrs Schmiedebetriebe, die Kutschen bauen konnten, offenbar veranlasste, in den Waggonbau einzusteigen. Dazu gehörte auch die Schmiede von Jungbluth, wenngleich es nicht der größte Betrieb war, sondern auf dem vorletzten Platz unter 20 Firmen rangierte (3): Bis Ende 1846 hatte Jungbluth mit 83 Mitarbeitern zwei Waggons für den Personentransport, aber 29 Wagen für den Güter- und Viehtransport mit insgesamt 154 Rädern (77 Achsen) gebaut, die zwischen 300 und 1500 Taler für Güterwagen und 1700 bis 2600 Taler für die Personenwagen kosteten – letztere waren teurer, weil hier Federn u.a.m. geliefert wurden. Im Bereich der Personenwagenproduktion meldete Jungbluth zumindest zwei Patente an: eines zur Achsendämpfung („ein Achslager, welches so eingerichtet sei, dass sich die Achse mit dem Lager gemeinschaftlich gegen die Feder verschieben könne“ zur Verhütung von Entgleisungen und Achsenbrüchen (4)), das 1874 auch für Österreich registriert wurde; und eines über ein Wachstuch „daß in Hitze und Kälte beugsam ist, selbst dem kochenden Wasser Trotz biete und die Weiterverbreitung des Feuers verhindert. In der Wagenbauanstalt für Eisenbahnen wird dieses Tuch als die bis jetzt praktischste Wagenbedeckung benützt“ (5).
Unfall, Brandstiftung oder „warmer Abbruch“ der Waggonfabrik?
Den ersten Hinweis auf den Brand der Waggonfabrik fanden wir wiederum bei Pietsch, allerdings nicht in seinen Memoiren (2), sondern in einem Artikel von 1908, der „Berlin vor 50 Jahren“ hieß (6). Dort heißt es: „Dort wo die `Bendler-Brücke´ mündete, erhob sich am Ostrande eines großen Kornfeldes das bis zur Lützowerwegstraße reichende, im Ziegelrohbau ausgeführte Gebäude der Jungbluthschen Wagenfabrik, die 1862 durch eine große Feuersbrunst vernichtet wurde„. Ohne weitere Angaben muss man, wenn man´s genauer wissen will, eine Tageszeitung Tag für Tag durchblättern (auf Mikrofilm !!!) und hoffen, die Meldung zu finden … oder einen Artikel über Großbrände in Berlin (7): 19 gab es davon im Jahr 1862, nicht gerade wenig (Bild 3), dazu eine Vielzahl kleinerer Brände. Der Brand am Schöneberger Ufer war der 6. Brand in diesem Jahr, also vermutlich im zweiten Quartal passiert. Wir fanden ihn in der Vossischen Zeitung vom 11. Juni 1862: Am Pfingstsamstag, den 8. Juni 1862, “ … Abends gegen 9 3/4 Uhr, brach in einem Seitenflügel des Jungbluth´schen Fabrik-Etablissement, Schöneberger Ufer 39, Feuer aus. Die Fabrikgebäude sind an verschiedenen Gewerbetreibende vermietet … In allen diesen Werkstätten war trockenes Holz, Säge- und Hobelspäne in großen Massen vorhanden“. Mit anderen Worten: Wenn das brennt, dann richtig. „Da die nächsten Polizei-Reviere mit Telegraphen nicht versehen sind … so vergingen etwa 30 Minuten, ehe die letztere auf der Brandstelle erscheinen konnte … Erst gegen 3 Uhr morgens wurde man Herr des Feuers … Das imposante Schauspiel hatte bald viele Tausende von Menschen welche eben von ihren Pfingstvergnügungen nach Hause zurückkehrten, um die Brandstelle versammelt“ (7).
Und nur neun Tage später, am 17. Juni, brannte es erneut bei Jungbluth. War der erste Brand noch unverdächtig, so nährt der zweite Zweifel an der Geschichte, wonach leichtsinnige Lehrlinge, die sich dort am 8. Juni aufgehalten hätten (am Pfingstsamstag abends um 21.45h!), für den Brand verantwortlich sein könnten. Aber die Börsenzeitung vom 10. Juni 1862, also noch Tage vor dem zweiten Feuer, geht weiter und notierte penibel: „Etwa die Hälfte des fünf Morgen großen Grundstücks ist niedergebrannt. Den größten Schaden erleidet die Berlinische Städtische Feuersocietät, bei welcher die sämmtlichen Gebäude mit etwa 65000 Rt versichert waren, und dürfte derselben wohl die Summe von 30000 Rt erreichen. Die Privatanstalten sind zwar ebenfalls mehr oder weniger an dem entstandenen Schaden betheiligt; wir glauben indess nicht fehl zu greifen, wenn wir denselben auf nur 14 bis 20000 Rt insgesamt veranschlagen, da die Dampfmaschine, Dampfkessel, die Lohmühle gerettet, ein großer Theil an Mobiliargegenständen unversichert und nebst den Gebäuden hauptsächlich nur Lohe verbrannt ist“ (8).
Jungbluth bekam also aus der Versicherung 50.000 Taler als Entschädigung, schätzte die Börsenzeitung (8), und hatte zudem ein fast „geräumtes“ Grundstück von 1266 Quadrat-Ruten (QR) zur Verfügung, das in dieser Lage und zu diesem Zeitpunkt einen Bodenwert von bestimmt 90 Taler je QR (9) hatte, also mehr als 125.000 Taler wert war. Diese insgesamt 175.000 oder mehr Taler hatten eine Kaufkraft von mehr als 2.500.000 € heute (10), mehr als genug für den nur 53 Jahre alten Heinrich Jungbluth, sich zur Ruhe zu setzen – er verkaufte einen Großteil des Grundstücks an den Bankier Johann Carl Blume (1819-1875), der dort Häuser baute (oder bauen ließ) und eine Privatstraße anlegte, die nach ihm „Blumeshof“ benannt wurde (siehe mittendran vom 15. Juli 2021). Jungbluth behielt allerdings ein Tortenstück zurück, Blumeshof 15 direkt am Landwehrkanal, und baute dort ab 1863 selbst – dieses Haus wird 75 Jahre später traurige Berühmtheit erlangen als „Judenhaus“, allerdings nach mehrmaligen Umbauten. Er und ein Teil seiner Kinder wohnte noch bis 1875 dort, dann verschwand er aus dem Adressbuch von Berlin.
Ein kleines „n“ macht einen großen Unterschied
Er starb nicht in seinem Geburtsort Buhla im Thüringischen, wie in der Sterbeurkunde seines Sohnes Karl Johann Ferdinand Jungbluth im Jahre 1907 behauptet wird – das hatten wir aufwendig durch einen professionellen Genealogen in Magdeburg prüfen lassen. Laut der Sterbeurkunde seines Sohnes Friedrich Wilhelm Edmund Heinrich im Jahr 1915 starb der Vater in Wernigerode im Harz – das dortige Stadtarchiv konnte das nicht bestätigen. Und er starb auch nicht in Berlin, wie in der Sterbeurkunde seiner Tochter Luise Friederike Amalie Besser geborene Jungbluth im Jahr 1920 behauptet wird – dazu hatten wir alle möglichen Standesämter digital durchsucht. Offenbar wusste keines der Kinder so genau, wo der Vater verblieben war.
Ein Jahr ging die Suche schon, bevor sie zu einem Ende kam. Eine neue Quelle schien die Variante Wernigerode zu bestätigen (Dank an Felicitas S.): Im Mitgliedsverzeichnis 1881/2 der Großen Freimaurer-Landesloge Berlin ist Heinrich Jungbluth als auswärtiges Mitglied der St. Johannis Loge vom Goldenen Pflug in Berlin verzeichnet, mit dem Wohnort Wernigerode; im Mitgliederverzeichnis von 1893/4 ist er nicht mehr enthalten. Das grenzt das Sterbedatum ein.
Eine erneute Rückfrage beim Stadtarchiv Wernigerode („Haben Sie wirklich gründlich genug nachgesehen?“) brachte vermutlich die Archivarin auf die Palme, die nächste Rückmeldung kam von ihrer Chefin („Er ist nicht in Wernigerode wohnhaft gewesen“ – basta) mit dem Hinweis, dass es einen Ort mit den Namen Werningerode in Thüringen gäbe, der hier vielleicht verwechselt worden sei. Werningerode auf dem Eichfeld ist in der Tat ein auch heute noch winziger Ort mit nicht mal 400 Einwohnern, der nur etwa 10 km vom Geburtsort Buhla des Jungbluth entfernt ist; das schien plötzlich sehr wahrscheinlich als Lösung.
Die Kirchenbücher von Werningerode sind nicht online zugänglich, die Internet-Recherche ergab: Sie sind in der Pfarrei von Großbodungen; das dortige Pfarreisekretariat meldete sich nach einiger Zeit mit „nein, sie sind in der Pfarrei in Silkerode“, und die Verwaltung in Silkerode vermeldete, „bitte an die Pfarrei in Niedergebra wenden“ – dann kam am 12. Mai 2023 die gesuchte Bestätigung: Heinrich Jungbluth verstarb am 31. März 1882 im Alter von 79 Jahren, 4 Monaten und 11 Tagen an einem „Lungenschlag“. Er hatte nach dem Tod seiner Frau 1875 erneut (1878 in Werningerode) geheiratet und hinterließ seine Frau Dorothea Johanne geborene Küchenthal und 7 erwachsene Kinder aus erster Ehe (Bild 4).
Der Kirchenbucheintrag (Bild 4) der Trauung wurde in der gleichen Pfarrei gefunden, sie war am 9. Juni 1878. Darin wird auch auf die standesamtliche Trauung im Standesamt Trebra am gleichen Tag hingewiesen, die sich nach weiterem Suchen schließlich fand. Es gibt auch einen Ort Trebra im Nachbarkreis von Nordhausen, und dort gab es den noch heute existierenden Gasthof zur Linde, der allerdings seit 1848 Gasthof zum König von Preußen hieß. Ausweislich dieser Urkunde war keines der Kinder aus erster Ehe unter den Trauzeugen, sondern zwei Ackerbürger aus Werningerode, allerdings auch keine Verwandten der Braut. Dies mag darauf hindeuten, dass die Verwandtschaft mit der Heirat keineswegs einverstanden waren, erbte doch die junge Frau Jungbluth 50% seines Nachlasses, ohne dass dazu ein Testament notwendig war – aber hier bewegen wir uns im Bereich der Spekulation.
Literatur
- Wilhelm Feige: Rings um die Dorfaue. Ein Beitrag zur Geschichte Schönebergs. Verlag Theodor Weicher, Berlin 1937, Seite 129
- Ludwig Pietsch: Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens. (Erstauflagen 1893/94, 2 Bände, Fontane Verlag Berlin) Berlin, Aufbau-Verlag (Neuauflage) 1989.
- von Weise: Mittheilungen über den Eisenbahn-Wagenbau in Deutschland und auswärts, vergleichend. Einrichtungen und Leistungen der bedeutendsten deutschen Anstalten für Eisenbahn-Wagenbau. Zeitschrift des Vereins für Deutsche Statistik 1 (1847), Seite 916-924.
- Im Internet unter: http://www.privilegien.patentamt.at, Aktenzeichen 24/000629
- Phoebus: Nürnberger Morgenblatt für Leser aller Stände 1846, Heft 15, Seite 59.
- Ludwig Pietsch: Berlin vor fünfzig Jahren. Velhagen und Klasings Monatshefte. XXII. Jahrgang 1097/1908, Heft 5, Seite 767-773.
- Voss´sche Zeitung vom 11.6.1862.
- Berliner Börsenzeitung vom 10. Juni 1862.
- Hartwig Schmidt. Das Tiergartenviertel. Baugeschichte eines Berliner Villenviertels. Teil I:1790-1870. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1981
- Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages. Kaufkraftvergleiche historischer Geldbeträge. Drucksache WD 4 – 3000 – 096/16 (2016) enthält eine Tabelle der Deutschen Bundesbank vom 19.1.2016 mit Kaufkraftäquivalenten historischer Beträge in deutschen Währungen seit 1810 – Gulden, Taler, Mark, Reichsmark, D-Mark.