(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com)
Es gibt zu dieser jüdischen Gemeinde, die eine eigene Synagoge hatte, nur sehr wenige gesicherte Informationen, und weil das so ist, haben alle mehr oder weniger voneinander abgeschrieben; und dem entsprechend tauchen immer wieder die gleichen wenigen Details auf. Die sicherlich umfangreichste Quelle zur Geschichte der sephardischen Juden ist ein Buch von Guttstadt (1) von 2008, von dem es auch Kurzfassungen über die sephardischen Juden in Berlin gibt (2, 3).
Was sind sephardische Juden?
Sephard ist der hebräische Name für Spanien, so wie Aschkenas der Name für Deutschland ist; Sephardim waren daher Juden aus Spanien und Portugal, wie Aschkenasim die Juden aus Nord-, Mittel- und Osteuropa waren. Die Aschkenasim sprachen ein dem Deutschen verwandtes „Jiddisch“, während die Sephardim ein dem Spanischen verwandtes „Ladino“ sprachen. Auf der von 714 bis 1492 zum Osmanischen Reich gehörenden iberischen Halbinsel hatten die Sephardim zumeist hohe und angesehene Stellungen und waren im Mittelalter besser integriert als die Aschkenasim in Mitteleuropa. Als die Rückeroberung (reconquista) Spaniens durch christliche Herrscher mit der Belagerung und Besetzung Granadas 1492 ein Ende fand, wurden die verbleibenden Juden per Gesetz gezwungen, zum Christentum zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Die daraufhin einsetzende Migration der Sepharden (Sepharad I) ging zunächst in das Königreich Portugal, aber als es dort 1796 ebenfalls zu einem Verbot des jüdischen Glaubens kam, zogen viele Juden entweder nach Norden (Niederlande, Skandinavien, Hamburg) oder nach Osten (in die Balkanstaaten, nach Nordafrika, Griechenland und die Türkei) und ließen sich im Osmanischen Reich nieder, während den verbliebenen, konvertierten Sephardim in Spanien und Portugal oftmals die Folter (Inquisition) drohte, wenn der Verdacht aufkam, dass der jüdische Glaube und die jüdische Lebensweise heimlich weitergeführt wurden. Die ins Osmanische Reich ausgewanderten Juden behielten ihre Sprache (Ladino, Spaniol) und ihre traditionelle Lebensweise bei, viele von ihnen lebten in Konstantinopel (Istanbul) und wurden auch hier geschätzt. Mit dem Untergang des Osmanischen Reiches und der Entstehung des türkischen Staates emigrierten viele Sephardim in mehreren Emigrationswellen, die Groh (4) Sephard II nennt, nach Wien und weiter nach Preußen (Berlin), das zu diesem Zeitpunkt (um 1900) starke diplomatische Beziehungen zur Türkei hatte. Hauptgeschäftszweige waren der Teppichhandel und die Tabakindustrie (Bild 1).
Etwa die Hälfte der in Berlin lebenden Türken hatte jüdische Wurzeln und türkische Pässe – sie fühlten sich bei der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zunächst noch sicher, aber als die Türkei begann, ihre Pässe für ungültig zu erklären, wurden sie erneut vertrieben oder wie ihre aschkenasischen Glaubensgenossen deportiert und umgebracht.
Was ist über die sephardische Gemeinde in Berlin bekannt?
Worin die meisten Quellen übereinstimmen: dass der Israelitisch-Sephardische Verein (ISV) 1905 gegründet worden sei. Als Beleg gilt ein Brief aus diesem Jahr von Fina Haim, eine der vier Töchter des Berliner Teppichhändlers Haim (Bild 2), an den spanischen Arzt Dr. Angel Pulido sowie Informationen aus einem Fragebogen, den Pulido an sephardische Gemeinden weltweit verschickt hatte. Darin wurden 25 Mitglieder der Berliner Gemeinde namentlich genannt: „Isidoro Covo und L. Haim, Kaufleute für orientalische Wandteppiche in großen Mengen; Victor Albahary, Zionist; Elías Benyaisch, Mosco Calmi, Ernest N. Covo und L. Haim, Kaufleute für orientalische Wandteppiche in großen Mengen; Victor Albahary, Zionist; Elías Benyaisch, Mosco Calmi, Ernest N. Covo und N. Romano, Kaufleute; Licco Covo, Bension Benvenisto, A. Rosano, Nissim Cohen, Eskenazy und Heinrich Levy, E. Y. Uziel und Is. Kamermam, Kommissionäre; Navon, Student der Germanistik und Lehrer für Spanisch; Dr. Samuel, Lehrer für Französisch; Dr. Benaroyo, Arzt; Dario Errera, Maschinenbauingenieur; Cappon, Angestellter, usw., und drei oder vier andere“ (5).
Im Berliner Adresskalender taucht der Verein aber erstmals 18 Jahre später auf, 1923 mit der Adresse Lützowstrasse 111, vorher ist er nicht gelistet, auch nicht unter anderer Adresse.
Die Zahl der Vereinsmitglieder wird mit 150 Mitte der 20er Jahre (6) und mit 500 Anfang der 30er Jahre angegeben, aber es wird an keiner Stelle gesagt, ob es sich dabei um die Zahl der sephardischen Familien handelt oder um Individuen – die Zahl 500 hat bislang überhaupt keinen Beleg. Vermutlich waren die 150 Mitglieder ihre Kopfzahl, nicht die Anzahl der Familien. Nimmt man nämlich die o.g. Liste als die der Mitglieder (25-29 Familien) und rechnet pro Familie 4-5 Personen, kommt man an die Zahl von 150 Sephardim heran.
Wo war der Verein in den Jahren 1905 bis 1923?
Bleibt also die Frage, wo genau der Israelitisch-Sephardische Verein von 1905 bis 1923 residierte. Dazu haben wir uns zunächst die Bauakte Lützowstraße 111 vorgenommen und die Baugeschichte rekonstruiert (7). Das Gelände war 1853 erstmals bebaut worden und gehörte seit 1878 der Viktoria-Brauerei-Aktiengesellschaft bzw. der Engelhardt-Brauerei; es wurde 1918 für 1,825 Million Mark an die Wertheim Grundstücks-Gesellschaft verkauft. Die Viktoria-Brauerei hatte im Jahr 1889 das Vorderhaus Ecke Lützowstraße und Flottwellstraße neu geplant. Das dabei entstandene Wohnhaus hatte die Hausnummern 111 und 112 mit 3 Etagen mit einer Anzahl von Wohnungen. Zusätzlich zu dem großen Festsaal der Brauerei für ungefähr 700 Personen, der bereits vorher existierte, entstand im ersten Stock oberhalb des Foyers des Saales (Flottwellstraße 8) ein zweiter, kleiner Festsaal nebst einem Vorraum, der etwa 350 Personen fassen konnte – auch der konnte nicht die spätere Synagoge sein, da er als „Schwechtensaal“ in den Jahren um 1925 für Kammermusik-Aufführungen und für Tonaufnahmen (Schallplatten) der Firma Organon diente. Aber das Jüdische Jahrbuch 1926 hatte eindeutig gesagt, dass die Synagoge im ersten Stock lag.
Band 7 der Bauakten endlich ergab einen Fund: Im Jahr 1913 beantragte die Viktoria-Brauerei-AG einen Umbau im 1. Stockwerk des Wohnhaus Lützowstraße 111, bei dem mehrere Zwischenwände aus verputztem Draht (Rabitz-Wand) oder Stahlbändern (Prüss-Wand) entfernt wurden, um größere Räume zu schaffen (Bild 3).
Hier wird der als Synagoge genutzte Raum gewesen sein, der auch dem optischen Bild der Synagoge entsprach: ein etwa 5 x 10 = 50qm großes Zimmer, das Platz für etwa 150 Personen bot: 6 Stuhlreihen à 5 Stühle plus 4 Stuhlreihen à 5 Stühle plus 60 oder mehr Stühle entlang der Wände; das zumindest entsprach der Größe der sephardischen Vereins um 1925 (Bild 4).
Dieser Umbau macht aber nur dann Sinn, wenn bereits mit dem Umbau 1913 die Unterbringung der sephardischen Synagoge beabsichtig war – oder eine andere, z.B. kommerzielle Nutzung großer Räume vorgesehen war. Bereits vor dem Umbau 1913 nimmt die Anzahl der Mieter zu, 1912 waren es acht, 1913 und 1914 elf und 1915 zwölf Mieter, darunter Gewerbebetriebe (Bechem & Post GmbH, Silonit-Baugesellschaft mbH), Handwerker und Selbständige sowie einige Kaufleute (Bild 5).
Dass laut Guttstadt (1-3) und anderen bereits 1915 in den Räumen des Vereins in der Lützowstrasse 111 eine Schule eingerichtet wurde, spräche ebenfalls für den früheren Bezug der Räumlichkeiten, allerdings findet sich diese Schule nicht in der Liste aller jüdischen Schulen Berlins zwischen 1915 und 1930. In diesem Fall müsste aber ein privater Mieter der Räumlichkeiten im Adressbuch verzeichnet sein, weil der ISV ja erst 1923 als Mieter im Adressbuch erscheint. Alternativ wäre noch möglich, dass die Wertheim Grundstücks-Gesellschaft die vorhandenen Räumlichkeiten ohne förmlichen Mietvertrag zur Verfügung stellte, weil z.B. der Kaufhausbesitzer Wertheim ein religiöser Jude war – schwer vorstellbar bei einer Aufsicht durch die Baupolizei, immerhin musste die Entfernung der Zwischenwände bezüglich Statik neu berechnet und von der Behörde genehmigt werden.
Und dennoch muss es so gewesen sein: Ein Brief des ISV an den Rabbiner David Simonsen in Kopenhagen vom 13. Dezember 1918, aufgespürt in der Dänischen Königlichen Bibliothek (Bild 6), zeigt im Briefkopf die Adresse des Vereins: „Lützowstrasse 111 I.Stock rechts„, sodass die zeitliche Lücke kleiner wird und es wahrscheinlicher wird, dass die Synagoge gleich nach dem Umbau 1913 dort eingerichtet wurde.
Warum der ISV nicht im Adressbuch aufgelistet ist, ist also dem Umstand zu verdanken, dass die Synagoge in einer Privatwohnung untergekommen war und dass einer der Mieter ab 1913 (oder ab 1918) der sephardischen Gemeinde eine Heimat gegeben hatte, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Angehöriger der Sephardim – die Frage ist nur: wer? Von den elf Mietparteien 1918 (s. Bild 5), die zum Teil schon vor 1918 und auch noch 1923 im Hause waren, kämen acht in Frage, sowie ein Mieter, der von 1919 bis 1923 hier registriert war. Diese Suche wird also noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Persönliche Erinnerungen eines sephardischen Jungen, der die Shoah überlebte
Isaak Behar, der 1923 in Berlin geborene Sohn eines noch in Konstantinopel aufgewachsenen sephardischen Ehepaares, das 1916 nach Berlin auswanderte, überlebte den Holocaust im Untergrund durch viele Verstecke in den Jahren 1939 bis 1945, während seine Eltern und Schwestern nach Riga deportiert und dort umgebracht wurden. Seine wenigen Erinnerungen an die sephardische Synagoge in der Lützowstraße 111 (er nennt die Hausnummer 110) in der Zeit vor dem Krieg decken sich mit den hier gemachten Angaben, fügen ihnen aber auch keine weiteren Details hinzu. Sie geben stattdessen einen eindrucksvollen Einblick in das Familienleben der Behars und in die Nöte und Gefahren, die jüdische Familien mit der Machtübernahme der Nazis 1933 ausgesetzt waren (6).
Literatur
1. Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Association A, Berlin 2008.
2. Corinna Guttstadt. Sepharden an der Spree. Türkische Juden im Berlin der 20er- und 30er- Jahre und ihr Schicksal während der Schoah. In: Uwe Schaper, Hrg. Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2008. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2008, S. 215-233.
3. Corry Guttstadt: Sepharden auf Wanderschaft. Vom Bosporus an die Spree, Elbe und Isar. PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für jüdische Studien e.V. 2013, Heft 19, Seite 89-112.
4. Arnold Groh: Searching for Sephardic History in Berlin. In: M.Mitchell Serels (Ed.) Semana Sepharad: The lectures. Studies on Sephardic History. New York 2001, Seite 32-56. (https://s-a-c-s.net/wp-content/uploads/2012/03/SephBerl.pdf).
5. Angel Pulido Fernandez: Espanoles sin patria y la raza sefardi (1904, Neuauflage) 1993 Granada, Universidad de Granada (Seite 294-297).
6. Isaak Behar: Versprich mir, dass du am Leben bleibst. Ein jüdisches Schicksal. Ullstein Verlag, Berlin 2002.
7. Bauakten Lützowstrasse 111 im Landesarchiv Berlin: B Rep. 202 Nr. 4394 bis 4402.