Jüdische Geschichte in Tiergarten-Süd: Der Blick über den (Tier-)Gartenzaun

Nachdem wir die Synagogen, Betsäle und jüdische Institutionen wie das Altersheim im Lützow-Viertel gesucht und gefunden haben, soll zum Abschluss der Serie der Blick noch in die Nachbarschaft gehen, nach „Tiergarten-Nord“ bzw. dem Hansa-Viertel und Moabit: auch dort wohnten Juden, auch dort bestand das Bedürfnis nach Gebetshäusern. Und so beauftragte die jüdische Gemeinde Mitte der 20er Jahre den Baumeister der Gemeinde, den Architekten Alexander Beer (1873-1944) (Bild 1), der ab 1928 und bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt im Blumeshof 15 wohnte, mit dem Bau einer weiteren Synagoge.

Bild 1: Foto von Alexander Beer (Datum und Fotograph unbekannt, Quelle: Artikel von 2013 bei www.KulturPort.de, der es von der Tochter Beers, Beate Hammet, Sydney, Australien zur Verfügung gestellt wurde).

Es gibt mehr als einen Grund, warum diese Synagoge am Ende nicht gebaut wurde, aber in jedem Fall ist es sehr schade: Sie wäre sicherlich die modernste der Berliner Synagogen geworden, hätte sie die Stürme der Zeit, die Pogrom-Nacht 1938, die Bombardierungen ab 1942 und Straßenkämpfe 1945 überdauert. Es sollte allerdings eine orthodoxe Synagoge werden, was sicherlich ein starker, reizvoller Kontrast geworden wäre, aber auch ein weiterer Grund, warum diese Synagoge nicht gebaut werden konnte.

Der Wettbewerb

Den sukzessiven Umzug eines Teils der jüdischen Bevölkerung Berlins vom – ärmeren – Nordosten in den – reicheren – Südwesten der Stadt hatten wir schon in der Verteilung der Synagogen und Betsäle in einer früheren Geschichte (mittendran vom 22. Juli 2023) gesehen. Die orthodoxen Juden erwarteten von der Gemeindeleitung dementsprechend nicht nur neue liberale (1), sondern auch orthodoxe Synagogen, und ein erster Plan sah eine solche Synagoge in einem Industriegebiet in Moabit vor (Agricolastraße). Alexander Beer hatte dafür bereits 1926 Pläne vorgelegt, die nicht erhalten sind, die aber im Zuge von Auseinandersetzungen mit der Baupolizei nicht realisiert wurden. 1928 erwarb die Gemeinde ein Grundstück in der Klopstockstraße im Hansaviertel, und Beer entwarf eine eher traditionelle Synagoge (2): Die lag, wie viele sakrale Bauten in Berlin, unmittelbar an der Klopstockstraße und war eingerahmt von Wohnhäusern (Bild 2).

Bild 2: Alexander Beers Fassaden-Entwürfe für die Synagoge Klopstockstraße. Oben der Erstentwurf von 1928, unten der revidierte Entwurf von 1929 nach dem Ende des Wettbewerbs. (Quelle: Akten im Landesarchiv Berlin, Re. 202 Nr. 1230 und 1231, gescannt aus und zitiert nach (2), Band 1, S.162)

Im Februar 1929 wurde zusätzlich ein Ideen-Wettbewerb ausgeschrieben, an dem sich renommierte Architekturbüros beteiligten, darunter Moritz Ernst Lesser (1882-1958); unter anderen fungierte Alexander Beer als Gutachter. Den radikalsten Entwurf legte das Architekten-Duo Augusta („Gusti“) Hecht (1903-1950) und Hermann Neumann vor (Bild 3), das damit den ersten Preis gewann. Es war das erste Mal überhaupt, dass sich eine Architektin mit einem sakralen Bau profilierte (3). Die Synagoge sollte 1050 Plätze auf zwei Ebenen haben (Bild 4), und im Inneren all die traditionell-rituellen Einrichtungen, die eine klassische Synagoge ausmachen, nur ihr äußeres Erscheinungsbild brach radikal mit der herkömmlicher – jüdischer – Sakralbauten. Nicht dieser Entwurf, aber der des Architekten Moritz Lesser, wurde von der Gemeinde angekauft.

Bild 3: Fassadenentwurf der Synagoge Klopstockstraße von Gusti Hecht und Hermann Neumann (Quelle: Die Baugilde, 11 Jahrgang (1929), Heft 11, Seite 860)

Bild 4: Grundriss der Synagoge Klopstockstraße von Gusti Hecht und Hermann Neumann (Quelle: Die Baugilde, 11 Jahrgang (1929), Heft 11, Seite 860).

Wer war Gusti Hecht?

Auguste Hecht, von der es leider kein Foto gibt, wurde 1905 in Brno, damals zu Österreich-Ungarn gehörig, geboren und studierte Architektur ab 1922 in Wien. Nach dem Examen als Diplom-Ingenieurin kam sie nach Berlin und arbeitete als Architektin wie auch als Journalistin (ab 1931), u.a. beim Berliner Tageblatt und beim Weltspiegel, dessen redaktionelle Leitung sie übernahm (4). Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 verlor sie ihre Anstellung. 1936 emigrierte sie über Paris nach Südafrika, wo sie 1940 heiratete, ein Café eröffnete (5) und am 17. Dezember 1950 in Johannesburg früh an einer Krebserkrankung verstarb. Wenig mehr ist über sie bekannt. In der Literatur zu Carl von Ossietzky (1889-1938) wird erwähnt, dass er den letzten Abend vor seiner Verhaftung am 27. Februar 1933 mit Freunden bei ihr verbrachte und sie in den folgenden Jahren Kontakt zu Ossietzky hielt und wichtige Informationen an den „Freundeskreis von Ossietzky“ weiterleitete (6).

Und was wurde aus der Synagoge?

Vielleicht war es unter Architekten – und ist es auch heute noch – üblich, sich von Wettbewerbseinreichungen inspirieren zu lassen, jedenfalls modifizierte der Hauptgutachter der Ausschreibung, Alexander Beer, nach diesem Wettbewerb seinen eigenen, früheren Entwurf (Bild 2). „Jedes Ornament fehlt, nicht aber die Kultsymbole. In der Mitte überragen in abstrahierter Form die Gesetzestafeln die kubischen Baukörper und demonstrieren damit immer noch Beers Anspruch auf die Sichtbarmachung des sakralen Charakters seines Synagogenbaus“ (2). Beer erhielt dafür die Zustimmung der jüdischen Gemeinde – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. In anderen Bereichen der Wissenschaft würde dies als mögliches Plagiat zumindest kritisch gesehen werden – aber vielleicht ist die Architektur auch eher dem künstlerischen denn dem wissenschaftlichen Feld zuzuordnen, wo man einem solchen Interessenskonflikt aus dem Wege gehen würde.

Aber auch Beers finaler Entwurf der Synagoge im Hansaviertel wurde dann schlussendlich nicht gebaut, da dafür ein Wohnhaus hätte abgerissen werden müssen – das schien in der Wirtschaftskrise 1929 nicht opportun. Im Sommer 1930 griff die Gemeinde daher zurück auf den Plan einer Synagoge in der Agricolastraße, auf der Basis eines anderen, ebenfalls modernen Entwurfes von Beer; es kam zwar zur Grundsteinlegung (16. September 1930), aber nicht zur Bauausführung, die am 29. April 1932 aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen eingestellt wurde. Die nachfolgenden politischen Ereignisse – insbesondere die Reichstagswahl von 1933 – läuteten das Ende jüdischen Lebens in Berlin für eine lange Zeit ein.

Gusti Hechts Synagogenentwurf aber würde auch heute noch sehr zeitgenössisch wirken.

Literatur

  1. Konstantin Wächter. Die Berliner Gemeindesynagogen im Deutschen Kaiserreich. Integration und Selbstbehauptung. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2022.
  2. Veronika Bendt, Rolf Bothe (Hg.): Synagogen in Berlin, Zur Geschichte einer zerstörten Architektur, Teile 1 und 2. Verlag Wilhelm Arenhövel, Berlin 1983 (Band 1, Seite 156-165)
  3. Ute Maasberg, Regina Prinz: Die Neuen kommen! Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwanziger Jahre. Hamburg o. J., Seite 89.
  4. https://de.wikipedia.org/wiki/Gusti_Hecht
  5. Martin Uli Mauthner: ‘Schubert Park’ – Memories of ‘Continental’ Jo’burg, in: AJR-Journal, 16. Jg. 2016, Nr. 8, Seite 5.
  6. https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_von_Ossietzky

Paul Enck

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