Im Artikel über die Jüdische Gemeinde an der Potsdamer Brücke (mittendran vom 3. September 2022) hatten wir ein Kassenbuch erwähnt, das sich im israelischen Staatsarchiv in Jerusalem befindet und dessen Digitalisierung uns vor mehr als zwei Jahren zu teuer schien. Jetzt, zwei Jahre später, war der Preis gefallen (keine Ahnung, warum), so dass wir uns entschlossen hatten, eine Kopie des Kassenbuches zu erwerben und auszuwerten. Neugierig waren wir, ob das Kassenbuch bestätigen würde, dass der „Tempel der Millionäre“, wie die Synagoge auch genannt wurde, diesen Ruf rechtfertigen würde – die Mitgliederliste immerhin, die wir seinerzeit ausgewertet hatten, enthielt zumindest einige prominente Bankiers und Kaufleute. Um es vorwegzunehmen: Reich war diese konservative Gemeinde nicht, sie kam so gerade „über die Runden“ und brauchte für ihren Unterhalt sogar eine regelmäßige finanzielle Unterstützung durch die liberalere jüdische Gemeinde in der Oranienburger Straße.
Das Kassenbuch deckt den Zeitraum 1. September 1926 bis 31. August 1927 ab und listet die monatlichen Ausgaben und Einnahmen. Der Bestand aus dem Vorjahr betrug 454,12 RM, am Ende des Kassenjahres war dieser auf 1518,39 RM angestiegen – damit hätte die Gemeinde nur gut einen Monat überleben können ohne weitere Einnahmen. Die regelmäßigen monatlichen Kosten summierten sich auf etwa 2000 Reichsmark (RM) (Bild 1). Davon entfielen 785 RM auf das Monatsgehalt des Rabbiners Dr. Heinrich Berger (1861-1937) (Prinzregentenstraße 10), der zudem eine jährliche Einmalzahlung von 333 RM erhielt. Ein Monatsgehalt von 320 RM erhielt der Oberkantor Ignaz Falk (Carmen Sylva-Str. 134 III), und 120 RM bekam der Schammes (= Synagogendiener) Heymann Gelbstein (im Adressbuch: Kultusbeamter; Michaelkirchstraße 7 IV). Der dickste Brocken im Budget aber war die monatliche Miete von 641,53 RM zzgl. Nebenkosten (Heizung, Elektrizität, insgesamt ca. 30 RM im Jahr). Weitere regelmäßige Ausgaben umfassten jährliche Versicherungen (60 RM).
Diese Mietzahlung deckte auf, dass die Gemeinde nicht im Besitz des Hauses war, sondern die Synagoge angemietet hatte. Gebaut worden war die Synagoge 1875/6 durch den Tiergarten-Synagogen-Verein (TSV), in dem vermutlich einige vermögende Gemeindemitglieder in den Kauf des Gebäudes und den Umbau zu einer Synagoge investiert hatten – nach Satzungsänderung und Trennung von Verein und Synagogenvorstand 1905 trat der TSV offenbar als Vermieter gegenüber der Gemeinde auf, und die zahlte eine – allerdings eher geringe – Miete: Nimmt man den Verkaufspreis des Grundstücks ein Jahr später (1928), als es 1,2 Millionen RM wert war, als Grundlage, betrug die Jahresmiete von 7698,36 RM nur etwa 1/150 der Investitionssumme – das war wenig seinerzeit und ist es auch unter heutigen Bedingungen.
Auf der Einnahmen-Seite der Gemeinde stand neben den Mitgliedsbeiträgen und Spenden, die sich im Kassenjahr 1926/7 auf etwa 3500 RM beliefen, vor allem die Buchung von Sitzplätzen in der Synagoge – getrennt für Männer und Frauen. Ein Sitzplatz wurde üblicherweise für das ganze Jahr gemietet und kostete in dieser Synagoge zwischen 10 und 50 Mark, in anderen Synagogen Berlins war das Spektrum breiter (Bild 2); nur selten wurden für eine Familie mehr als 2 Plätze gebucht. An den hohen Feiertagen des jüdischen Kalenders mussten oftmals zusätzliche Betsäle gemietet werden (siehe mittendran vom 22. Juli 2023), aber das dürfte bei dieser Gemeinde eher die Ausnahme gewesen sein: Nimmt man, wie in der Vergangenheit, an, dass die Gemeinde zwischen 100 und 150 Mitglieder hatte, erbrachten die gebuchten Plätze eine Einnahme von ca. 4100 Mark für 210 Plätze – je etwa zu Hälfte für Männer und Frauen – so viele Plätze hatte offenbar die Synagoge.
Das Gesamtbudget der Gemeinde betrug also auf der Einnahmenseite etwa 28.000 RM und auf der Ausgabenseite etwa 27.000 RM und war damit weit entfernt von dem Ruf, der der Gemeinde im Volksmund zugeschrieben wurde: kein Tempel der Millionäre, sondern eine kleine, vielleicht eher elitäre, konservative Gemeinde jüdischer Traditionalisten, die sich ihre Exklusivität nur leisten konnte, weil die weitaus größere und liberale Judenschaft Berlins sie mit einem beträchtlichen Zuschuss unterstützte, der mit 14.000 Mark mehr als die Hälfte ihrer Ausgaben deckte.