Jüdisches Leben im Lützow-Viertel (13): Versandhandel A. Blumenreich (Teil 3)

Im nächsten Teil der Geschichte des Versandhandels Arnold Blumenreich gehen wir dem Schicksal der Geschwister von Arnold nach, die – wie er – aus der ersten Ehe seines Vaters Paul Philipp Blumenreich (mittendran vom 22. Juni 2024) mit Adele Fraenkel aus Breslau stammten: Arnold war der Älteste (mittendran 20. Juli 2024), geboren 1875 in Berlin, gefolgt von Elsa, die 1877 in Wien zur Welt kam. Walther wurde 1880 geboren und Leonhard kam 1884 in Berlin zur Welt. Fangen wir mit dem Jüngsten, mit Leo, an.

Leo Blumenreich (1884-1932)

Leo wurde am 18. September 1884 geboren. Seine leibliche Mutter war ein halbes Jahr nach seiner Geburt an Tuberkulose verstorben; die zweite Ehefrau seines Vaters, die Lehrerin Gertrud Lewissohn (1856-1903), wird ab November 1886 die Rolle seiner Mutter übernommen haben. Diese Ehe stand aber unter keinem guten Stern: Zwei in der Nachfolge geborene Kinder starben innerhalb kurzer Zeit (1887, 1888) und nach nur vier Jahren wurde die Ehe im Oktober 1890 geschieden: Leo war jetzt sieben Jahre alt.

Leo lernte vermutlich schon vor der Scheidung seiner Eltern seine dritte „Mutter“ kennen, die Schriftstellerin Franziska Kapff-Essenther (1845-1899). Sie heiratete seinen Vater im Jahr 1891, kam aber bereits 1888 nach Berlin und noch im gleichen Jahr sowie 1889 und 1891 wuchs die Familie um drei weitere Kinder; jetzt waren es sieben kleine Kinder, die mit den Eltern von 1892 bis 1894 nach Stuttgart zogen – Leo war 10 Jahre alt, als sie 1894 wieder nach Berlin kamen.

In der folgenden Zeit jonglierte und strauchelte sein Vater mit den von ihm initiierten Theaterprojekten, dem Theater Alt-Berlin auf der Gewerbeausstellung 1896 und dem Westend-Theater an der Kantstraße, auch und vor allem finanziell. Als sein Vater wegen Betrugs verurteilt wurde und sich der Gefängnisstrafe durch Flucht in die USA entzog (1897), hatte Leo vermutlich noch nicht seine Schulausbildung beendet und eine Buchhändlerlehre begonnen. Wikipedia (1) behauptet, dass er am 18. März 1898 am Königlichen Luisengymnasium in Moabit das Abitur gemacht habe, aber die Jahresberichte des Gymnasiums (2) listen ihn nicht, weder in diesem Jahr noch in den Jahren zuvor – und im Jahr 1899 war er zum Prüfungstermin zu Ostern gar nicht mehr im Lande (s. unten). Es ist ferner unklar, ob er vor 1899 bereits eine Buchhändlerlehre begonnen hatte und wenn doch, ob dies bereits bei Paul Cassirer war, in dessen Buch- und Kunstverlag er später Teilhaber werden sollte. Ausweislich einiger Zeitungsberichte hatte er Kontakt zu seiner Stiefmutter in Berlin, aber sicherlich nicht unmittelbar vor ihrem Suizid, wie behauptet. Denn Leo Blumenreich reiste am 5. Februar 1899 allein mit dem Schiff Patria von Hamburg nach New York (Bild 1) und war dort, als sich seine Stiefmutter am 28. Oktober 1899 in Berlin aus einem Hotelfenster stürzte und starb – Leo war jetzt 15 Jahre alt, auf der Passagierliste war er als Schüler notiert. In den Volkszählungsunterlagen von New York 1900 sind Paul Blumenreich und vier seiner Kinder gelistet, darunter Leo.

Bild 1. Schiffspassage des Schülers Leo Blumenreich auf dem Schiff Patria der Hamburg-Amerika-Linie auf dem Wege von Hamburg nach New York, ausgelaufen am 5. Februar 1899 (Quelle: Ancestry).

Ob Leo mit seinem Vater 1901 von New York nach Wien zurückgekommen ist, ist unklar, aber wahrscheinlich; in diesem Fall hätte er 1901 in Wien seine vierte „Mutter“ kennengelernt, er war jetzt 17 Jahre alt. Laut Wikipedia hat er in Wien eine vierjährige Ausbildung zum Antiquariatsbuchhändler gemacht (1), aber auch hier fehlt der Beleg: Im Adressbuch von Wien in den Jahren bis 1907 gibt es Leo Blumenreich nicht – er war jetzt 20 Jahre alt. Die nächsten gesicherten Informationen über ihn finden wir an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, wo Leo vom SS 1908 bis einschließlich SS 1909 als Kunststudent eingeschrieben war. Grundlage dafür war eine Regelung im Hochschulrecht (§ 3 des Gesetzes vom 1. Oktober 1879), die es Staatsbürgern ohne Abitur erlaubte, bis zu vier Semester zu studieren, ohne jedoch einen Abschluss erlangen zu können (Bild 2). Den Nachweis „einer für die Anhörung von Universitäts-Vorlesungen genügender Bildung“ hatte er offenbar „auf dem hiesigen Luisen-Gymnasium“ erbracht (3). Auch ein universitäres Abschlussexamen ist nicht nachgewiesen in der Unterlagen des Universitätsarchivs (4). Stattdessen findet sich ein Brief in der Akte, dass er „aufgrund eines eiligen Umzugs nach England“ im Oktober 1909 sein Testat-Buch verloren habe und um ein Duplikat bitte – er hatte drei Semester Philosophie studiert.

Bild 2. Auf vier Semester beschränkte Zulassung zum Studien der Philosophie (Kunstgeschichte) ohne Abitur durch das Rektorat (aus: 4).

In London hatte er offenbar gemeinsam mit einem Schweizer, Martin Hofer (1889–?) von 1911 bis 1914 ein Antiquariat auf der Duke’s Street 47, St. James’s, das sich auf niederländische und italienische Primitive sowie Zeichnungen und Kunsthandwerk spezialisierte (1). Er heiratete im Oktober 1913 in Willesden (Middlesex, England) Emmy Berman geborene Simon (1871-1923), deren Mann kurz zuvor (1912) verstorben war. Diese Ehe war 1905 geschlossen worden und ihr entstammten zwei Söhne, Hans und Sigfried, die noch minderjährig waren.

Im Jahr 1915 kommentiert er in einen Artikel in der Berliner Tageszeitung und Handelsblatt über „Erlebnisse eines Kunsthändlers in London … von einem soeben aus England heimgekehrten deutschen Kunstverleger“ (5) über die während des Krieges (Erster Weltkrieg 1914-1918) vorhandenen Ressentiments und Anfeindungen, die Deutsche in England erfuhren: Aus seiner – sicherlich privilegierten – Sicht waren sie weitaus geringer als man in der deutschen und englischen Öffentlichkeit glaubte: „Mir und meinen Angehörigen sowie auch meinen vielen deutschen Freunden und Bekannten ist …nur freundlichste und weit über bloße Höflichkeit hinausgehende Anteilnahme entgegengebracht worden„. Dies wird sich allerdings mit dem Beginn der Zeppelin-Angriffe auf England im Frühjahr 1915, insbesondere mit den Bombenabwürfen über London ab Mai 1915, sehr schnell geändert haben.

Daher kam Leo Blumenreich mit Frau und Kindern im Frühjahr 1915 rechtzeitig nach Berlin, wo er zum 1. Januar 1917 als persönlich haftender Teilhaber bei Paul Cassirer (1871-1926) eintrat, der seinen Kunstsalon und -verlag seit 1898 in der Victoriastraße 35 im Tiergarten-Viertel hatte. 1911 eröffnete Paul Cassirer zusätzlich einen Kunstbuchverlag, der auch die Kunstzeitschrift Pan ab 1911 neu herausgab. Der Buchverlag war ab 1917 in der Potsdamer Straße 113, in dem vom Architekten Ernst Klingenberg (1830-1918) um 1871 gebauten Villenareal (wie auch der sog. Begas-Winkel an der Genthiner Straße), das heute Mercatorhof heißt. Cassirer residierte in der Villa 8 und war damit Nachbar von Anton von Werner (1843-1915) in der Villa 6. Sein Cousin Bruno Cassirer (1872-1941), bis 1901 noch Mitinhaber von Paul Cassirers Kunsthandel, hatte seit 1902 einen eigenen Kunstverlag in der Derfflinger Str. 16.

Bereits im Jahr 1917 eröffnete Leo Blumenreich auch seine Kunsthandlung am Schöneberger Ufer 37. Etliche seiner Kunstaktivitäten (Kauf, Verkauf, Vermittlung, Schenkung) sind in einschlägigen Archiven und Museen gut dokumentiert (6) (Bild 3). Seine beiden Stiefsöhne wurden ebenfalls Kunsthändler: Dr. Siegfried Bermann heiratete 1921 in Berlin eine Serena Heissig aus Wien, die katholisch war, sein Bruder Hans Bermann heiratete 1922 ebenfalls in Berlin eine Amalia Susanna Berman aus Belgien – ihre Schicksale haben wir nicht weiterverfolgt.

Bild 3. Foto von Leo Blumenreich, aufgenommen 1926 (Fotografin: Lili Baruch, Quelle: (1)).

Was wie eine friedliche, nach all den Entbehrungen der Kindheit geglückte Zeit des beruflichen und familiären Erfolges aussah, endete abrupt:  Emmy Berman-Blumenreich starb einige Tage nach einem schweren Autounfall im April 1923 in der Nähe von Hoppegarten, eine der Schwiegertöchter war im Auto und wurde ebenfalls schwer verletzt (Bild 4) (7). Der Chauffeur war einem über die Straße laufenden Mädchen ausgewichen – beide kamen ums Leben. Leo, der wie die anderen aus dem Auto geschleuderte wurde, wurde nur leicht verletzt.

Bild 4. Meldung zum Autounfall vom 1. April 1923 (Ostersonntag) (Quelle: (7)).

Er heiratete im folgenden Jahr, am 22. April 1924, Johanna Cassirer geborene Sotschek (1887-1974); „Hannah“ Cassirer war zuvor mit dem Industriellen Alfred Cassirer (1875-1932) verheiratet gewesen und war geschieden worden. Im Jahr 1927 bezog die Familie ein Haus in Dahlem (Wildpfad 17E) (Bild 5). Das Kind aus der ersten Ehe von Hannah, Eva Cassirer, die 1920 geboren wurde und 2009 in Mallorca verstarb, hatte stets eine hohe Meinung von ihrem Stiefvater Leo Blumenreich. Auch wenn es ihm offenbar nicht vergönnt war, eigene Kinder zu haben, hat seine eigene, sehr schwierige Kindheit ihn offenbar veranlasst, anderen vaterlosen Kindern ein gutes Zuhause zu geben. Leo Blumenreich starb am 12. Mai 1932 im Martin-Luther-Krankenhaus Berlin, er wurden nur 48 Jahre alt.

Bild 5. Die Blumenreich-Villa in Berlin-Dahlem, Wildpfad 17E (Quelle: Standbild aus einem YouTube-Video über Eva Cassirer: https://www.youtube.com/watch?v=09u94eguJf0).

Literatur

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Blumenreich.
  2. Abiturienten am Luisengymnnasium Ostern 1898: https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ulbdsp/periodical/pageview/4023684.
  3. R. Schiffmann (Hrsg). Deutsche Schulgesetze. L. Oehmigkes Verlag, Berlin 1886, Seite 212.
  4. Akte im Archiv der Humboldt-Universität: Abgangszeugnisse vom 23ten Oktober 1909 bis 28ten Oktober 1909. Universitäts-Registratur Littr. A No. 6 Vol. 1720.
  5. Berliner Tagblatt und Handelszeitung, Abendausgabe, Freitag, den 16. April 1915, Seite 4.
  6. z.B. im Zentralinstitut für Kunstgeschichte: https://boehler.zikg.eu/.
  7. Berliner Tagblatt und Handelszeitung, Abendausgabe vom 3. April 1923, Seite 4.

Paul Enck

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