Jüdisches Leben im Lützow-Viertel (13): Versandhandel A. Blumenreich (Teil 4)

Im vierten Teil der Familiengeschichte der Blumenreichs geht es um den 1880 geborenen Walter Blumenreich, der sich ab 1919 aus uns bislang nicht bekannten Gründen Walter Blonck nannte. Es gibt nur wenige Informationen zu ihm.

Walter Blumenreich (1880-1942)

Walter Blumenreich wurde am 15. Mai 1880 in Berlin geboren; sein Vorname variierte in der Schreibweise (Walter, Walther), so dass wir uns entschieden haben, ihn einheitlich Walter zu nennen, wie es in seiner Geburtsurkunde geschrieben steht. Wie seine Geschwister hatte er mehrere „Mütter“, die sich nacheinander um ihn kümmerten – genau genommen vier -, aber er scheint den steten Wechsel der Bezugspersonen (1884 Tod der leiblichen Mutter, 1886 erneute Heirat des Vaters, 1890 Scheidung, 1891 erneute Heirat, 1899 Suizid der Stiefmutter, 1902 erneute Heirat, 1906 Tod des Vaters) im Alter zwischen 4 und 26 Jahren dramatischer erlebt haben als der jüngere Leo (mittendran vom 11. August 2024) und der ältere Arnhold (mittendran vom 20. Juli 2024), wie wir sehen werden.

Auffällig ist, dass er wie seine beiden Brüder dem Vorbild des Vaters folgte und zunächst eine Ausbildung als Buchhändler machte – nur das wo und wann können wir nicht rekonstruieren, aber das ist bei den meisten Ausbildungsgängen so, es sei denn, sie finden an Universitäten statt. Wir finden Walter Blumenreich erstmals im Berliner Adressbuch im Jahr 1905: Der 25-jährige Walter Blumenreich war Geschäftsführer und Gesellschafter der „Berliner Verlag GmbH“, Lützowplatz 3; im Jahr darauf: Schöneberger Ufer 32, und von 1908 bis 1910: Verlagsbuchhandlung Walter Blumenreich, Kurfürstenstr. 3.  Von 1911 bis 1918 schließlich wohnte er in der Genthiner Str. 13, in der heute Begas-Winkel genannten Privatstraße. Die Villa K hat heute die Nr. 31K und ist die ehemalige Villa des Künstler-Ehepaars Begas-Parmentier (mittendran vom 6. April 2022). Buchhandlung und Verlag residierten in der Linkstraße 29. Dann verschwand Walter Blumenreich aus dem Adressbuch, war aber noch bis 1927 im Handelsregister als Buchhalter der Firma Brack & Keller in der Linkstraße registriert.

Der Kunstbuchverlag Carl Brack & Keller GmbH mit einem Stammkapital vom 70.000 Mark (1905 erhöht auf 90.000 Mark) war am 24. Februar 1904 von den Kaufleuten Willy Wollank und Albert Heinrich Goldschmidt übernommen und im Handelsregister eingetragen worden (HRB 2458). Nach mehreren Änderungen der Geschäftsleitung und Prokura trat am 6. Dezember 1916 der Verlagsbuchhändler Walter Blumenreich der Firma bei und wurde zum Vorstand gewählt. Im Handelsregister wurde mit Datum vom 27. August 1919 eine Änderung des Nachnamens von Blumenreich in Blonck notiert (1).

Die Namensänderung

Laut seiner Geburtsurkunde wurde ihm am 29. Juli 1919 gestattet, den Familiennamen Blonck zu führen; er war zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt. Einen Grund nennt die Urkunde nicht (Bild 1), sondern verweist auf eine Polizeiverfügung vom 15. Juli 1919 mit der Geschäftsnummer 178 B. T I 3.19. Also haben wir uns auf die Suche gemacht nach diesem Erlass in der Hoffnung, dort einen Grund für diese Namensänderung zu finden. Im Landesarchiv Berlin sind Akten zugänglich, die sich sowohl mit individuellen Fällen von Anträgen auf Namensänderungen in Berlin (2) wie auch mit den rechtlichen Voraussetzungen und Regelungen bei Namensänderungen generell befassen (3).

Bild 1: Beischrift auf der Geburtsurkunde von Walter Blumenreich (Quelle: Ancestry).

Eine Akte, in der der individuelle Fall der Namensänderung „Blumenreich zu Blonck“ dokumentiert wurde, haben wir nicht gefunden. Aber von den vielen Akten, in denen diese Anträge zwischen 1812 und 1945 gesammelt wurden, fehlen sehr viele, nicht nur die von Walter Blumenreich – möglicherweise sind diese Akten an anderen Orten ausgewertet worden, z.B. als es nach 1933 den Nazis darum ging, Juden zu identifizieren, die sich durch Taufe und Namensänderung assimiliert und weniger angreifbar gemacht hatten.

Namensänderungen waren aus folgenden Gründen möglich: Wenn Namen für deutsche Zungen unaussprechlich waren, z.B. polnische und russische Namen, oder wenn sie lächerlich waren (z.B. Dummer, Fick); jüdische Namen konnten auf Antrag geändert werden. Die meisten Namensänderungen wurden aus rechtlichen Gründen (bei Adoptionen, Scheidungen etc.) bewilligt.

Beantragten Juden die Änderung des Familiennamens, kam es offenbar des Öfteren zu uneinheitlichen Regelungen, so dass sich der Innenminister 1900 veranlasst sah, in allen diesen Fällen darauf zu bestehen, dass diesen Anträgen „nicht ohne meine vorher einzuholende Ermächtigung Folge gegeben werde“ (3). Letztendlich haben wir den Grund für Walter Blumenreichs Änderung seines Nachnamens nicht gefunden, sondern können nur vermuten, dass dies aufgrund der antisemitischen Stimmung im Deutschen Reich erfolgte, die sich seit der sogenannten „Gründerkrise“ 1873 vor allem als „akademischer Antisemitismus“ nicht nur im Deutschen Reich breit machte (4). Aber der weitere Verlauf der Lebensgeschichte von Walter Blumenreich/Blonck lässt auch die Vermutung zu, dass die Namensänderung mit psychischen Problemen zu tun hatte.

Eine schwere Nervenerkrankung

Von 1919 -1922 wohnte Walter Blonck noch in der Genthiner Str. 13, ab 1923 findet er sich nicht mehr im Berliner Adressbuch unter eigener Adresse. Die entscheidenden Hinweise auf seinen Verbleib ergaben sich stattdessen aus der Handelsregister-Akte des Kunstbuchverlages Carl Brack & Keller GmbH, wo er noch bis 1927 als alleiniger Verantwortlicher geführt wurde (1).

Die von ihm jährlich zu führende und an das Handelsregister einzureichende Liste der Gesellschafter wurde für das Jahr 1921 nicht ausgeführt, sondern mit Begleitschreiben vom 14. Februar 1922 an das Amtsgericht Berlin-Mitte zurückgesandt, wonach sich der Geschäftsführer Walter Blonck seit 5 Monaten, d.h. seit Oktober 1921 „infolge einer überaus schweren Nervenerkrankung in einem Sanatorium befindet“ und eine Wiederherstellung der Gesundheit noch nicht abzusehen sei. Eine Mahnung des Gerichtes vom April 1922 beantwortete stattdessen sein Bruder Leo Blumenreich, Geschäftspartner des Kunsthandels Paul Cassirer (s. mittendran vom 11. August 2024) unter Verweis auf den inzwischen 6-monatigen Aufenthalt seines Bruders im Sanatorium Waldhaus in Nikolassee. Auch für 1922 schickte Leo das Formular zurück an das Amtsgericht, und für 1923 fragte das Amtsgericht vorsorglich bei Leo Blumenreich nach dem Gesundheitszustand, der sich im Oktober 1923 noch nicht gebessert hatte.

Bürokratische Mühlen sind nicht nur schwer in die Gänge zu setzen, und sie sind auch schwer zu stoppen, wenn sie einmal in Bewegung kommen: So kam es im März 1924 zu einer Ordnungsstrafe (20 Mark) und der Androhung weiterer Kosten, falls der Meldepflicht nicht nachgekommen werde; diesmal (Mai 1924) antwortete Bruder Arnold, da Leo Blumenreich im Monat zuvor einen schweren Autounfall überlebt hatte, infolgedessen seine Frau verstorben war. In einem Schreiben an das Amtsgericht vom 17. November 1924 schlug Arnold vor, die Firma zu liquidieren, da „leider keine Hoffnung auf Genesung vorhanden ist“. Es dauerte dann noch zwei weitere Jahre, bis die Industrie- und Handelskammer zu Berlin am 30. Oktober 1926 dem Amtsgericht mitteilte, dass die Firma Carl Brack & Keller „im Jahre 1921 [den Geschäftsbetrieb eingestellt] hat. Vermögen besitzt die Firma nicht. Wir bitten, die Löschung der Firma im Handelsregister von amtswegen herbeizuführen„. Dies erfolgte mit Datum vom 31. Januar 1927.

Zehlendorf-Nikolassee, Wittstock (Dosse), Berlin-Buch, Brandenburg (Havel)

Das Sanatorium Waldhaus, heute eine Privatklinik für internistisch-psychosomatische und psychiatrische Behandlung in Zehlendorf-Nikolassee (Potsdamer Chaussee 69), war 1903 von dem Arzt und späteren Sanitätsrat Dr. med. Emil Nawratzki (1867–1938) zusammen mit seinem Kollegen Dr. Max Arndt (1871-1956) als „Heilanstalt für Gemütskranke“ gegründet und eröffnet worden (Bild 2). Sie ist im Berliner Adressbuch von 1904 bis 1936 als „private Heilanstalt“ aufgeführt. Die Bettenzahl im Jahr 1906 betrug 136, 67 für Männer und 69 für Frauen (5). Die jüdischen Eigentümer verkauften die Klinik 1936 zwangsweise an die Innere Mission der Evangelischen Landeskirche Berlin, vertreten durch Pastor Dr. Theodor Wenzel, die dort eine evangelische Kur- und Pflegeanstalt für Nervenkranke auf gemeinnütziger Grundlage einrichtete; im 2. Weltkrieg wurde die Klinik Lazarett.

Bild 2: Foto des Sanatorium Waldhaus in Steglitz-Nikolassee (Postkarte um 1910, gemeinfrei).

Es ist anzunehmen, dass auch die jüdischen Patient*innen in der Klinik nach der Machtergreifung der Nazis 1933 nicht unbehelligt blieben, aber spätestens mit Kriegsbeginn wurde Walter Blonck vermutlich in das Pflegeheim nach Wittstock (Dosse) verlegt, einer der Provinzialanstalten für Irre und Geisteskranke aus Berlin (Bild 3) (6). Wie man der Tabelle entnehmen kann, waren im Jahr 1925 etwa 5000 Pfleglinge, Alte und Kranke (Sieche) in Anstalten in Berlin untergebracht, und etwa die gleiche Anzahl in Anstalten außerhalb Berlins, davon etwa 300 in Wittstock. Hier verliert sich wieder die Spur von Walter Blonck, Krankenakten werden regelhaft nur 30 Jahre aufbewahrt.

Bild 3: Tabelle der pflegerischen, psychiatrischen und geriatrischen Patient*innen in den verschiedenen Pflegeanstalten Berlins und Brandenburgs (Quelle: (6)).

Es fand sich dann doch noch ein weiterer Hinweis auf seinen Verbleib im Gedenkbuch des Bundesarchivs zu den Opfern des Nationalsozialismus (7). Danach wurde der Patient „Walter Blonk“ im Rahmen der sogenannten T4-Sonderaktion von Wittstock nach Berlin-Buch in die dortigen Heilanstalten verlegt. In Buch wurden die psychiatrischen Patienten aus den umliegenden Anstalten gesammelt und dann nach Brandenburg (Havel) deportiert, wo sie direkt nach Ankunft ermordet (vergast) wurden; für Walter Blonck ist der 17. Juli 1940 als Tag der Deportation und Ermordung festgestellt (Bild 4).

Bild 4: Walter Blonk in der Datenbank des Gedenkbuchs des Bundesarchivs (aus: (7)).

T4 steht für die Adresse Tiergartenstraße 4 (siehe mittendran am 3. Februar 2023), die Villa, in der leitende NSDAP-Mitglieder und eine Reihe Mediziner ab 1939 die Ermordung (euphemistisch „Euthanasie“ = „schöner Tod“ genannt) aller psychisch und körperlich behinderten Patienten in Deutschland beschlossen hatten. Die T4-Sonderaktion im Jahr 1940 führte alle jüdischen Patienten in Deutschland in einige wenige Institutionen zusammen – für Berlin und Brandenburg in Berlin-Buch – von wo aus die Deportationen erfolgten. In der „Landespflegeanstalt Brandenburg a. d. Havel“, einem umgebauten Zuchthaus, wurde ausprobiert, was in der Folge in vielen psychiatrischen Kliniken im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten exekutiert wurde: in Brandenburg wurden 9.000 Patienten, insgesamt wurden mehr als 70.000 kranke Menschen ermordet (8).

Literatur

  1. Akte Brack & Keller im Landesarchiv Berlin (LAB): A Rep. 342-02 Nr. 126.
  2. Akte Namensänderungen speziell im LAB: A Pr. Br. Rep. 30, Nr. 20585 ff.
  3. Akte Namensänderungen allgemein im LAB: A Pr. Br. Rep. 30 Tit. 203 Nr. 20720.
  4. Wikipedia-Artikel zum Antisemitismus, speziell der Abschnitt zum Antisemitismus im Kontext der Reichsgründung 1871.
  5. Hans Laehr, Hrg. Die Anstalten für Psychisch-Kranke: In Deutschland, Deutsch-Österreich, der Schweiz und den Baltischen Ländern. 6. Auflage, Georg Reimer Verlag, Berlin 1907.
  6. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 1927 (Jahrgänge 1876 bis 1934 in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin: https://digital.zlb.de/viewer/metadata/16308258/)
  7. Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933-1945 (https://bundesarchiv.de/gedenkbuch/#list).
  8. Henry Friedlander. Jüdische Anstaltspatienten im NS-Deutschland. In: Götz Aly, Hrg. AKTION T4 1939-1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Edition Hentrich, Berlin 1989, Seite 34-44.

Paul Enck

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