Medizingeschichte im Lützow-Viertel:
(1) Von der Medizin für Arme und Reiche

(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com)

Mit der heutigen Einführung in die Medizingeschichte im Lützow-Viertel beginnt eine Serie von Geschichten, in denen wir in den kommenden Monaten verschiedene Personen in der Gesundheitsfürsorge zwischen 1800 und 1945 vorstellen wollen, die auf ihre jeweilige Art und Weise zum heutigen Gesundheitssystem beigetragen haben.

Lange jedoch bevor es ein Gesundheitssystem gab und noch viel länger, bevor es als Gesundheitsindustrie bezeichnet werden konnte, war medizinische Versorgung in Preußen – und anderswo – in ein (Zwei-)Klassen-System eingebunden. Dies wird exemplarisch deutlich im Jahr 1837 bei der Gründung des Elisabeth-Krankenhauses im Lützow-Viertel, das damals noch vor der Stadt lag, in der sogenannten Friedrichsvorstadt, auf Schöneberger Grund. Es war erst das zweite Krankenhaus in Berlin.

Das erste war die Charité, gegründet mehr als 100 Jahre zuvor (1710), und zwar als Pesthaus, deshalb vor dem Spandauer Tor. Ab 1727 diente die Charité als Bürgerhospital, davor war es vor allem Versorgungsanstalt für Arme, Bettler, unehelich Schwangere und Prostituierte, sowie Militärlazarett – Berlin hatte 1730 etwa 60.000 Einwohner, zuzüglich 15.000 Militärpersonen.

Krankenversorgung war zu diesem Zeitpunkt und noch für viele Jahre vor allem Versorgung der Patienten zuhause, selbst Universitätskliniken hatten keine stationären Betten, sondern schickten Studenten zu den Kranken nach Hause zur Untersuchung und Therapie, und auch die Versorgung mit Lebensmitteln (Nahrung, Wäsche, Kleidung) geschah durch Besuche bei den Kranken selbst. Der 1837 gegründete Frauen-Kranken-Verein des Predigers Johannes Evangelista Goßner (1773 – 1858) (es gab auch einen Männer-Kranken-Verein, im gleichen Jahr gegründet) nutzte eine angemietete 2-Zimmer-Wohnung an der Stadtmauer (Hirschelstraße, heute: Stresemannstraße) als logistische Basis, jeden Tag kranke, bettlägerige Frauen zu versorgen.

Da bot sich 1839 die Gelegenheit, vor der Stadt an der Chaussee nach Potsdam ein Wohnhaus zu kaufen, das – so Goßner – „das passendste, gelegenste Lokal (ist), das wir finden und uns wünschen konnten, es besteht aus einem Wohnhaus (das für ein Krankenhaus so zweckmäßig gebaut ist, als wäre es gleich anfangs dazu bestimmt gewesen), aus einem Seitengebäude, in dem sich eine Gärtnerwohnung, zwei Remisen und zwei Ställe befinden, und noch anderen Treib- und Gewächshäusern u. dgl. … dann aus einem großen Hof mit zwei Brunnen, einem großen Garten …“ (1) (Bild 1).

Bild 1: Das Elisabeth-Krankenaus (heute: Evangelische Elisabeth-Klinik) im Jahr 1839; nur der rechte Hausteil bestand 1837, das Gebäude links wurde 1839 angebaut (Quelle: Stiftung der Goßner Mission/Johannesstift Diakonie Berlin, aus: Wikipedia, gemeinfrei).

Dieses Haus Potsdamer Chaussee 40 war Eigentum der Witwe des Apothekers Friedrich Wendland, der 1825 über den Schafsgraben gezogen war und sich hier zur Ruhe setzen wollte, mit 50 Jahren ein Rentner, der von seinem Ersparten leben konnte – ein „Particulier“ oder „Rentier“. Und die vielen Zimmer des Hauses waren sicherlich nicht als Hospital gedacht, sondern wohl eher als Sommerwohnungen für Stadt-müde Berliner, so wie es sie auch nördlich des Schafgrabens im Tiergarten-Viertel vielfach gab. Der Frührentner verstarb früh (mit 51 Jahren), und seine Witwe (Kinder waren keine da) brauchte offenbar das Geld (20.000 Taler, im Jahr 1837 einem Betrag von etwa 720.000 Euro heute entsprechend (2)), um ihr Leben in den nächsten Jahren zu finanzieren – ein allgemeines Rentensystem gab es nicht, und sie starb erst 1854 mit 77 Jahren.

Deswegen fängt die Geschichte der Medizin im Lützow-Viertel vor der Gründung des Elisabeth-Krankenhauses an, etwa 100 Jahre zuvor und an einem anderen Ort, in Köslin (heute: Koszalin, Polen), an der Ostseeküste zwischen Stettin und Danzig – hier beginnt die Geschichte der Apothekerfamilie Wendland (3) (Bild 2).

Bild 2: Das Apotheker-Privileg für Gabriel Wendland in Köslin 1730 (Quelle: Foto aus der Akte im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem: II. HA GD, Abt. 12, Städteverwaltung, Stadt Köslin, Privilegien und Konzessionen Nr. 4)

Das Elisabeth-Krankenhaus entwickelte sich schnell, bereits 1839 wurde ein weiteres Gebäude angebaut, jetzt konnte es bis zu 100 Patienten stationär versorgen, wobei – das wird in den jährlichen Berichten des Vereins deutlich – die Kapazität weniger durch den Raumbedarf als durch den Bedarf an Versorgungsmitteln, insbesondere Bettzeug bestimmt wurde. Zwar war der Hygiene-Standard bei weitem nicht so hoch wie heute, aber auch ohne die Erkenntnisse des Robert Koch und anderer Infektiologen zum Ausgang des 19. Jahrhunderts war vielen Ärzten klar, dass z.B. die regelmäßig wiederkehrenden Cholera-Epidemien (1831, 1832, 1837, 1848, 1849, 1850, 1852, 1853, 1855, 1859, 1866, 1871, 1873) ihre Ursachen in unzureichender Hygiene hatten: fehlende Kanalisation von Abwässern, mangelnde Trennung von Frisch- und Abwasser, Isolation der Kranken von den Gesunden. Die erste Epidemie (1831), die sich lange vorher ankündigte, war so bedrohlich, dass es sogar eine eigene Cholera-Zeitung gab. Die schwerste dieser Epidemien war die Cholera-Epidemie von 1866 (4), die auch die gerade erst entstandene Kolonie südlich des Landwehrkanals betraf. Eine wichtige Rolle bei der Versorgung – solange man die Ursachen der Cholera nicht sicher kannte – spielten daher Versorgungsinstitutionen wie das Siechenhaus Bethesda (Bild 3) in der damals noch Teltower Straße genannte Kurfürstenstraße östlich der Potsdamer Straße.

Bild 3: Das ursprüngliche Siechenhaus Bethesda auf dem Schöneberger Feld (spätere Adresse: erst Teltower Straße, dann Kurfürstenstraße). Lithografie von Carl Arnold Paulsen, 1854 (Quelle: Wikipedia, gemeinfrei)

Dabei trafen diese Epidemien vor allem die Ärmsten der Stadt, weil sie unter den schlechtesten Wohnbedingungen lebten. Es gab seit 1695 eine königliche „Armenkommission“, deren ursprüngliche Aufgabe die Bekämpfung der Bettelei war; 1785 betreute diese fast 10% der Berliner Bevölkerung. Im Jahr 1819 wurde das „Armenwesen“ der Stadt übertragen und umorganisiert, es gab danach eine städtische Armenkommission, und Armenbeauftragte und Armenärzte in bevölkerungsstatistisch definierten Stadtbezirken, aber auch steigende Bedürftigkeit durch weitere Stadtverdichtung, nach wie vor mangelhafter städtischer Hygiene (Kanalisation wurde erst nach 1870 eingeführt), und Proletarisierung der frühindustriellen Arbeitsverhältnisse. Wir werden den für die Friedrichsvorstadt zuständigen Armenarzt Dr. Johann Wolfert kennenlernen, der seine Praxis im Cholerajahr 1855 begann und mehr als 50 Jahre seines Berufslebens Armenarzt im Lützow-Viertel war, eher er 1909 im Alter von 79 Jahren starb (Bild 4).

Es hat zu allen Zeiten natürlich immer auch Medizin für Reiche gegeben, wenngleich es natürlich nie einen so deklarierten „Reichenarzt“ gab, weder in Berlin noch sonst wo. Aber erst mit Erreichen eines breiteren generellen Versorgungssystems für größere Teile der Bevölkerung – wozu auch die Einrichtung einer allgemeinen sozialen Kranken- und Rentenversicherung gehörte – war es möglich, auch die Versorgung der Vermögenden auf eine geregelte Basis zu stellen. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden erste Privatkliniken, eine der bedeutendsten und größten ihrer Zeit war die Privatklinik des Chirurgen Ernst Unger (1875-1938) in der Derfflingerstraße 21 (5). Nach der Vertreibung dieses jüdischen Arztes durch die Nationalsozialisten – Unger starb bei einem tragischen Autounfall 1938 – hat das „Haus Unger“ eine wechselvolle Geschichte erlebt, war Vereinshaus der nationalsozialistischen Frauenschaft von 1936 bis 1945, nach dem Krieg psychiatrische Klinik des Krankenhauses Moabit und ist seit 1990 Studentenwohnheim (Bild 5).

Bild 5: Foto der Gedenktafel am Haus Unger (Eigenes Foto vom 13. Januar 2021)

Ganz zum Schluss dieser Folge von Geschichten über die Medizin im Lützow-Viertel kehren wir noch mal zurück an das Elisabeth-Krankenhaus, das 1937 sein 100-jähriges Jubiläum feierte (6). Der Pfarrer in dieser zugegebenermaßen „schwierigen Zeit“, Werner von Rotenhan (1880-1940), und der leitende Internist, Friedrich Wilhelm Bremer (1894-1944) (Bild 6) und ihre jeweilige Geschichte, soweit wir sie aus Dokumenten und Unterlagen rekonstruieren können, machen diese Zerrissenheit vieler Menschen in diesen Jahren – Anhänger der nationalsozialistischen Idee zu sein, aber gleichzeitig der Ethik des jeweiligen Amtes (Pfarrer, Arzt) verpflichtet zu sein – mehr als deutlich. Beide haben das Ende des „tausendjährigen Reiches“ nach nur 13 Jahren nicht erlebt.

Bild 6: Erklärung zur NSDAP-Mitgliedschaft von Dr. Bremer von 1937, bei Antrag auf Ernennung zum außerplanmäßigen Professor (Quelle: Akte im Bundesarchiv, R 73/19462)

  1. 125 Jahre Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus in Berlin 1837 – 1962. Festschrift, herausgegeben von Walter Augustin. Berlin, Felgentreff und Co. 1962; darin: „Johannes Gossner: Der Anfang – Jahresbericht 1837″, S. 46ff sowie „Werner Freiherr von Rotenhan: Das Wachstum. Aus dem Bericht zur Jahrhundertfeier 1937“, S.52ff)
  2. Deutsche Bundesbank. Kaufkraftvergleiche historischer Geldbeträge (Stand 2021) mit Kaufkraftäquivalenten historischer Beträge in deutschen Währungen seit 1810 – Gulden, Taler, Mark, Reichsmark, D-Mark. https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/13c8ab8e09d802ffcf2e5a8ae509829c/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf)
  3. Friedhelm Reinhard: Die „Königlich privilegierte Engel-Apotheke“ in Berlin. In: Peter Dilg, Michael Engel: Pharmazie in Berlin. Historische und aktuelle Aspekte. Berlin, Verlag Dr. Engel 2003, Seite 74-88.
  4. Barbara Dettke. Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien. Berlin, De Gruyter Verlag 1995 (darin Kap. 7: Die Cholera in Berlin, S. 169-207).
  5. Enno A. Winkler. Ernst Unger (1875-1938). Eine Biobibliographie. Dissertation. Berlin: Internationale Verlags-Anstalt 1976
  6. Paul Gerhard Diakonie (Hrsg.): Geschichte der evangelischen Elisabeth Klinik Berlin. Autor: C.Tangerding. Berlin, Paul Gerhard Diakonie 2012 (im Internet unter: https://www.pgdiakonie.de/fileadmin/media/eli/pdfs/eli_geschichte_chronik.pdf)

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