Wir waren schon mal in der Lützowstraße 76, anlässlich der Geschichte der jüdischen Betsäle (mittendran vom 22. Juli 2023), und den Blüthner-Konzertsaal (nach 1928: Bach-Saal) findet man in der Printausgabe von mittendran in diesem Frühjahr 2024. Der Saal gehörte seit 1907 zum Klindworth-Scharwenka-Konservatorium in der Genthiner Straße 11 (heute 26), ebenso wie ein zweiter Konzertsaal, der anfänglich Klindworth-Scharwenka-Saal hieß, später dann zunächst Schwechten-Saal, ab 1931 Schumann-Saal. Beide waren über die Lützowstraße 76 erreichbar, auch wenn das Konservatorium an der Genthiner Straße seinen Eingang hatte (Bild 1). Da die Lage der Konzertsäle heute nicht mehr leicht rekonstruierbar ist, hier ein sogenannter Situationsplan (Bild 2).
Seit 1923 gehörten die Konzertsäle Oskar Schwalm (1856-1936), einem Schwiegersohn des Piano-Fabrikanten Julius Blüthner (1824-1910) aus Leipzig, und Schwalm stellte am 20. Mai 1923 einen Antrag bei der Baupolizei (1), den kleineren der beiden Säle (Fassungsvermögen: 500 Plätze im Parket und im Rang) so umzubauen, dass nicht nur Konzerte, sondern auch Theater stattfinden konnte, im Wesentlichen also eine Vergrößerung der Bühnenfläche. Gleichzeitig sollte die Eingangsfassade neugestaltet werden (Bild 3). Die gesamte Baugeschichte werden wir uns zu einem späteren Zeitpunkt ansehen. Nach Genehmigung des Umbaus als Theaterbühne wurde hier die „Comedia Valetti“ gegründet, deren Namensgeberin Rosa Valetti (1876-1937) war, eine zu diesem Zeitpunkt bereits bekannte, später berühmte Bühnen- und (Stumm-)Film- schauspielerin (2) – aber auch das gehört in eine andere Geschichte.
Und dann trat, durchaus auch zur Überraschung der Theaterpolizei, eine Gruppe von zwanzig russischen Theaterleuten an die Behörde heran und bat am 26. Mai 1924 um Genehmigung der Aufführung eines Theaterstücks an vier Tagen im Juni des Jahres (Bild 4) – der Antrag war unterzeichnet von einem M. Gnessin aus Moskau. Es ist unklar, ob der Polizei zum Zeitpunkt der Genehmigung (30. Mai 1924) bereits bekannt war, dass die Vorstellung des Theaterstücks „Belsazar“ in hebräischer Sprache stattfinden sollte – Hebräisch sprachen selbst in der jüdischen Gemeinde von Berlin nur die allerwenigsten. Zu diesem Zeitpunkt interessierte die Polizei nur, ob die Dekorationen unbrennbar (aus Asbest!) seien. Die Presse scheint dies aber gewusst zu haben: Vor der Generalprobe Anfang Juni berichtete es die Vossische Zeitung (25. Mai 1924), und die liberal-jüdische deutsch-österreichische Wochenzeitung „Die Wahrheit“ meckerte in ihrer Berliner Ausgabe am 31. Mai: „Es wird immer schöner bei uns. Der deutsche Michel läßt sich das alles ruhig gefallen, ohne mit einem Donnerwetter die mauschelnden ´Russen´davonzujagen“ (3). Nach der Premiere am Sonntag, den 15. Juni 1924, überschlugen sich die Zeitungen, vor Begeisterung wie vor deren Gegenteil, krasser Ablehnung, und der Spielplan mit nur vier Vorstellungen sollte für weitere Vorstellungen im Juni verlängert werden.
Gelobt (und kritisiert) wurde das Thema, Belsazar, ein alttestamentarisches Gleichnis, das bereits von Heinrich Heine (1797-1856) aus der jüdischen Mythologie in Verse gesetzt worden war (4), die von Robert Schumann (1810-1856) vertont worden waren. Gelobt und verrissen wurden Schauspieler, Dekoration und Musik: „Alles, was zu den Augen sprach, wirkte durch ausdrucksvolle Lebendigkeit, originale Farbigkeit und rhythmisches Gefühl“ (5), aber auch „eine von Farbenphantasien überlastete Kleinbühne, der verfehlte Raumverteilung die Suggestion verweigerte“ (6) (Bild 5). Blieb die Sprache, die kaum jemand verstand: Es war vermutlich vor allen Dingen Neugierde, weshalb die Kunstszene und die Wissenschaft den Theatersaal an vier Abenden gefüllt hatte, offenbar also 2000 Zuschauer anlockte. „Doch auch zionistische Geister müssen zugeben, daß dies europäisches, modern-russisches Theater war – keines aber, das jüdischen Geist, jüdische Tradition, jüdischer Schöpferkraft entsproß. Vielleicht muß erst eine hebräische Dichtung vorhanden sein, damit hebräisches Theater geboren wird„, schlussfolgerte Kurt Pinthus im Abendblatt (7) und nahm damit vorweg, was Arnold Zweig (1887-1968), der Schriftsteller, in seiner Rezension noch weit griffiger und bissiger formulierte: „Denn das Theater, noch einmal, begann immer beim Drama. Ohne die gedichtete Gestalt und die Rede des Dichters aus ihrem Munde bleibt die Bühne ein Turnplatz für rhythmische Gymnastik und ein Rahmen für farbige Schneider- und Malerei. Vom Drama aus, von der erregten und zuinnerst gepackten Menge aus, von der zuckenden nackten Seele des Schauspielers her und unter der Zucht anspruchsvoller, ernster Kritik macht man den Weg zum Theater. Von innen nach außen. Von der Seele zum Körper. Vom Geist zum Kostüm und Dekorateur. Nicht anders; vor allem nicht umgekehrt“ (8).
Die Schauspieler des Moskauer Palästina-Theaters aber hatten die Aufführungen in Berlin als Probe genutzt, ihr Engagement blieb ein Intermezzo in der Comedia Valetti in der Lützowstraße 76. Sie reisten im August 1924 von Berlin nach Tel Aviv (damals Palästina, heute Israel) weiter (9), wo ihnen im September 1927 ein eigenes Theater gewidmet wurde (10).
Literatur
- Akte LAB: A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 934, Blatt 1.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Rosa_Valetti.
- Die Wahrheit, Deutschösterreichische Wochenschrift 30. Mai 1924 (Heft 22) (aus: (1)).
- https://de.wikipedia.org/wiki/Belsatzar.
- Vossische Zeitung vom 16. Juni 1924 (Nr. 283).
- Zeitungsausschnitt, Quelle unbekannt, vom 16. Juni 1924 (aus: (1)).
- Abendblatt vom 16. Juni 1924 (Nr. 131)
- Arnold Zweig. Palästina-Theater. In: A.Zweig: Juden auf der Deutschen Bühne. Welt-Verlag Berlin 1928, Seite 286.
- Jüdische Rundschau Nr. 86 (1924) Seite 612.
- Jüdische Rundschau Nr. 64 (1927) Seite 460.