Spaziergang in die Vergangenheit (15): Die „Stierburg“ Auf dem Carlsbade 11

Ein merkwürdiges Buch ist mir in die Hände gefallen: Harald von Koenigswald (1906-1971) war wohl ein konservativer, eher unpolitischer Literat, möchte man meinen, hat er doch die Zeit des Nationalsozialismus unbeschadet überstanden und publizierte fleißig vor und auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg, aber das kostete seinen Preis, wie dieses Buch zeigt. Das Buch ist betitelt „Das verwandelte Antlitz“, wurde 1938 veröffentlicht (1) und erzählt schwärmerisch von den alten Vierteln der Stadt (Königsplatz, Die Zelten, Tiergartenviertel, Karlsbad und Matthäikirchviertel), um sie vor dem Vergessen zu bewahren, bevor sie von den bereits herrschenden Nationalsozialisten abgerissen und durch „Germania“, die monströse Hauptstadt des „Dritten Reiches“ ersetzt werden sollen – was der Autor wiederum kaum erwarten kann. Es finden sich sogar Bilder vom Abbruch in dem Buch (!), nebst interessanten Fotos des alten Berlin, das verschwinden soll und wird (Bild 1). Diese Widersprüchlichkeit durchzieht das Buch, scheint aber dem Autor nicht sonderlich weh zu tun.

Bild 1: Fototitel „Im Abbruch“ (aus (1); Fotograf: vermutlich Karl Fritz Riedel, weiteres unbekannt).

Es ist eines der wenigen Bücher dieser Zeit, die die Geschichte der Straße „Am Karlsbad“ aufgreifen, sieht man einmal von Ludwig Pietsch ab, der hier seine Schriftsteller-Karriere begann und beschrieb (2) und sie auch 50 Jahre später noch in Erinnerung rief (3) – da hatte sie schon längst ihr Aussehen und ihren speziellen Charakter verändert und lag im „neuen Westen“, der städtebaulichen Ausdehnung der Stadt Berlin nach Südwesten Richtung Potsdam und Charlottenburg. Beide, Pietsch und Koenigswald, aber auch Heinrich Seidel (4), weisen darauf hin, dass hier eines der ersten Häuser Berlins stand, die jenseits des Landwehrkanals entstanden, das des Berliner Architekten Wilhelm Stier (1799-1856) (Bild 2), gebaut zu einer Zeit, als hier entlang des Schafgraben fast nur Gaststätten für den sonntäglichen Ausflug der Berliner standen, neben ein paar Sommerhäuschen: Krugs Garten, der Hofjäger, das Elysium mit dem Marienbad, der Moritzhof, der Albrechtshof, der Garten der Chmelick´schen Badeanstalt mit dem Café Milenz, Möves Blumengarten, alles Idyllen, die Adolph von Menzel (1815-1905) oft in seinen Bildern festgehalten hat.

Bild 2: Portrait von Wilhelm Stier. Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin Inv. Nr. 18346.

Stier war Architekt, städtischer Baurat und Professor an der Bauakademie. Er hatte in Berlin studiert, sich weitere Jahre in Düsseldorf fortgebildet, war nach Paris gegangen und schließlich in drei Monaten (zu Fuß!) nach Rom, wo er fünf Jahre blieb und arbeitete. Dort lernte er Karl Friedrich Schinkel (1781-1848) kennen, den wohl berühmtesten preußischen Baumeister, der ihn nach Berlin holte (5). Hier wurde er ein von seinen Schülern verehrter Lehrer an der Akademie – deren Akademischer Verein Motiv gibt es noch heute. Neben vielen Entwürfen, die es im digitalen Architekturmuseum der Technischen Universität gibt (6), ist es vor allem sein Wohnhaus „Auf dem Carlsbade 11“, das wieder und wieder abgedruckt wurde und damals Bewunderung und Erstaunen, aber auch Spott hervorrief ob seiner für diese Zeit – und für heute? – modernen, geradezu spektakulären Architektur (Bild 3). Gebaut wurde es 1834 bis 1837, nach seiner Heirat 1830, hier lebte die Familie – es gab einen Sohn, Hubert, der ebenfalls Architekt wurde – bis zu seinem Tod. Es gibt zu diesem Haus leider keine weiteren Dokumente, Grundrisse etwa und Bauzeichnungen der Innenräume und deren Gestaltung, es heißt nur, zum Beispiel bei Pietsch: „Erker, Söller, Loggien, Fenster, hie und da willkürlich angebracht, gaben dem Gebäude ein ganz wundersames, von allen damals in und um Berlin stehenden abweichendes, Aussehen … Im obersten Geschoß, das sich noch über die Wipfel der höchsten Bäume seines Parks hinaushob, befand sich das Atelier des Architekten.“

Bild 3: Das „Stierburg“ genannte Haus des Architekten Wilhelm Stier, Auf dem Carlsbade 11 (aus: (5) Seite 18).

Und die Motiv-Studenten gaben ihm hier jährlich im Vorgarten ein Geburtstagsständchen, und seitdem angeblich heute noch an seinem Grab auf dem alten Schöneberger Friedhof (Bild 4).

Bild 4: Grab von Wilhelm Stier auf dem alten Schöneberger Friedhof, entworfen von August Stüler (aus: Wikipedia, Foto: Axel Mauruszat vom 9. August 2006)

Literatur

  1. Harald von Koenigswald. Das verwandelte Antlitz. Kommodore Verlag, Berlin 1938.
  2. Ludwig Pietsch. Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens. 2 Bände, Berlin 1893/4. Neuauflage in einem Band: Aufbau-Verlag, Berlin 2000, Zitat: Seite 174.
  3. Ludwig Pietsch: Vom Schreibtisch und aus dem Atelier. Berlin von fünfzig Jahren. Velhagen & Klasings Monatshefte. XXII. Jahrgang 1907/1908, Heft 5, Januar 1908, S. 767-773.
  4. Heinrich Seidel: Das „Karlsbad“, ursprünglich abgedruckt in der Wochenschrift „Das neue Berlin“ Nr. 3 vom 6. Februar 1886, wiederabgedruckt in Berlinische Blätter Nr. 2, Jahrgang 2, Februar 1935, S. 25-27.
  5. R.E.O Fritsch. Für Wilhelm Stier. Zur Feier seines Gedächtnisses am 8. Mai 1896. In: Unser Motiv. Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen des akademischen Vereins Motiv. Commissionsverlag Max Pasch, Berlin 1896, Seite 11-20.
  6. Architekturmuseum TU Berlin, Wilhelm Stier: https://architekturmuseum.ub.tu-berlin.de/index.php?p=51&SID=1719147493920

Paul Enck

Schreibe einen Kommentar