Immer wenn von Walter Benjamin (1892 – 1940) und seiner „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ (1) die Rede ist, fällt das Stichwort Blumeshof („Blume-Zof“, nebst der „Mark-thalle“, dem Tiergarten und so weiter), und dann bemerken die Literaturbeflissenen, dass er im Blumeshof 12 seine Großmutter mütterlicherseits – Hedwig Schönfließ, geborene Hirschfeld (1845-1908) – besucht habe; aber keiner sagt einem, wann das denn war, „um Neunzehnhundert“ ist halt arg ungenau.
Sucht man Hedwig Schönfließ im Adressbuch, stellt man fest, dass sie zwischen 1897 und 1906 hier wohnte, dann nach Charlottenburg zog (Knesebeckstr. 68/69) und zuletzt in Steglitz lebte (Stubenrauchstraße 4), bevor sie am 17. Februar 1908 in der Privatheilanstalt Fichtenhof in Zehlendorf verstarb. Walter Benjamin kann also zwischen 5 und 14 Jahre alt gewesen sein bei seinen Besuchen im Blumeshof 12 (Bild 1).
Wenn man aber Walter Benjamins Kindheitserinnerungen aufmerksam liest, stellt man fest, dass auch seine Großmutter väterlicherseits, Brunella Benjamin geborene Mayer (1827-1919), in dieser Zeit im Blumeshof wohnte, in der Nummer 8 gegenüber der 12, und zwar von 1893 bis 1901. Sie zog aus der Linkstraße hierher, wo auch ihr Sohn Emil (1856-1926) und seine Frau Pauline, geborene Schönfließ (1869-1930) gewohnt hatten, bevor Walter Benjamin geboren wurde und sie ins Lützow-Viertel zogen (Magdeburger Platz 4). Auch Großmutter Brunella Benjamin zog fort aus dem Blumeshof, 1901, als Walter Benjamin etwa neun Jahre alt war. Er schreibt dazu viele Jahre später: „Die Großmutter [mütterlicherseits, Hedwig Schönflies] starb nicht im Blumeshof. Ihr gegenüber wohnte lange Zeit die Mutter meines Vaters, die schon älter war. Auch sie starb anderswo. So ist die Straße mir zum Elysium, zum Schattenreich unsterblicher, doch abgeschiedener Großmütter geworden“ (1).
Warum abgeschieden? Die Benjamins wohnten ab 1896 (Walter war erst 4 Jahre alt) in der Kurfürstenstraße 154 II im 2. Stock, über der heutigen Kurmark-Apotheke, die es schon damals gab, aber die Schneidersche Apotheke hieß (2). Dort blieben sie bis 1900, wohnten bis 1903 in der Nettelbeckstraße 24 (heute: An der Urania Ecke Kurfürstenstraße) und ab 1904 in Charlottenburg in der Carmerstraße 3. Walter Benjamin war jetzt 12 Jahre alt, hier ging er zur Schule – in der Kaiser-Friedrich-Schule in der Bleibtreustraße 43 (Bild 2) machte er 1912 das Abitur. Die Schulakten im Landesarchiv enthalten sogar noch seinen Abituraufsatz und die seiner Mitschüler (3) – sicher etwas ganz besonderes für die oben erwähnten Literaturbeflissenen, aber die haben diesen Schatz offenbar noch gar nicht entdeckt und gehoben (4). Und auch sein handgeschriebener Lebenslauf findet sich in den Akten, mit durchaus eindrucksvoller Perspektive für einen Zwanzigjährigen (Bild 3): Gerade in letzter Zeit entwickelte sich … mein Interesse für die Wirkung von Religion auf Individuum und Gesellschaft. An Hand von Burkhardts ´Kultur der Renaissance in Italien´ versuchte ich, eine Epoche kulturgeschichtlich zu erfassen … Ob in meinem Universitätsstudium die Philosophie oder die Literatur überwiegen werden, vermag ich noch nicht zu entscheiden. Die Erinnerungen an seine Großmütter dürften aus der Zeit nach 1904 stammen, aus der Carmerstraße war der Blumeshof schon sehr „abgeschieden“, 3 bis 4 Kilometer.
Bleibt die Frage, ob die Wohnung der Großmutter Hedwig Schönfließ wirklich so groß war, wie sich Walter Benjamin 30 Jahre später zu erinnern glaubt, oder ob, wie es so oft der Fall ist, Erinnerungen den Ort der Kindheit größer erscheinen lassen als er war. Dazu ein Blick in die Bauakte des Hauses Blumeshof 12 (Bild 4) (5), wo Hedwig Schönflies in der zweiten Etage wohnte, wie wir aus einer anderen Quelle (6) wissen; und zum Vergleich die Akte von Blumeshof 8 (4), wobei die Etage nicht bekannt ist, auf der Brunella Benjamin wohnte (Bild 5). Für ihre Wohnung berechnen wir eine Wohnfläche von etwa 150 qm, während die Wohnung von Hedwig Schönflies sicherlich mehr als die doppelte Fläche hatte, um 400 qm, und in der Tat, wie in den Erinnerungen von Walter Benjamin, reihten sich dort Zimmer an Zimmer, vollgestopft mit Inventar, das „heute keinem Trödler Ehre machen (würde)… die aufgrund ihres Eigensinns, mit dem sie Ornamente vieler Jahrhunderte auf sich vereinten, von sich und ihrer Dauer durchdrungen waren.„
Literatur
- Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2010.
- Paul Enck: Die Apothekerfamilie Wendland. eine mikrohistorische Studie aus dem Berliner Lützow-Viertel. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2023, Seite 11-26.
- Schulakten der Kaiser-Friedrich-Schule im Landesarchiv Berlin (LAB): A Rep. 020-14 Nr. 257.
- Momme Broderson: Klassenbild mit Walter Benjamin: eine Spurensuche. Siedler Verlag 2012.
- Bauakten Blumeshof 8 und 12 im LAB: B Rep. 202 Nr. 2953 und 2955.
- Simon May: How to be a refugee. Picador Verlag, London 2021.