Dass das Lützow-Viertel in der Literatur eine Rolle spielt, wissen wir seit Walter Benjamin (1) und seinen beiden Großmüttern im Blumeshof (mittendran vom 7.12.2024). Auch Heinrich Mann (1871-1950) hat den Protagonisten seines Romans „Im Schlaraffenland – Ein Roman unter feinen Leuten“ (2), Andreas Zumsee, seine Affaire mit der verheirateten Adelheid Türkheimer, die in der Hildebrandstraße wohnte, in der Lützowstraße spielen lassen: Sie ‚Ich suche Dir eine hübsche Parterrewohnung und sorge für alles Nötige. Sage nur wo? Aber es darf nicht zu weit von uns sein‘. Er, zögerlich: ‚Lützowstraße, meinetwegen‘ – aber das ist literarische Fiktion, weil Heinrich Mann die Lützowstraße gekannt haben mag (er wohnte 1890 bis 1892 in Berlin, davor in Dresden, danach in München und den Roman schrieb er um 1900) und es ist ja wirklich ein Katzensprung von der Hildebrandt- in die Lützowstraße.
Aber die Geschichte, um die es heute geht, hat tatsächlich stattgefunden; über sie gestolpert bin ich in den „Berliner Briefen“, die Alfred Kerr (1867-1948) in den Jahren 1895 bis 1900 für die Breslauer Zeitung aus der Reichshauptstadt schrieb: eloquente, meist freche oder bissige Kommentare zum Zeitgeschehen, in Berlin, im Reich oder in der Welt (3). In seinem Brief vom 30.Oktober 1898 berichtet Kerr, dass eine Frau Elisabeth Hartert verhaftet worden sei, und dass sie „eine legitime und eine illegitime Seite [besaß]. Sie befaßte sich mit der Vermittlung von Heiraten und auch mit der Vermittlung freier Liebe. Vielleicht um die Kavaliere zu entschädigen, bevor sie in den sauren Apfel bissen, gönnte sie ihnen Erholungsabende mit ungebundeneren Mitmenschinnen in ihren traulichen Anstaltsräumen am Magdeburger Platz“ (3). Das klingt bei Kerr wie eine Satire, ist wohl auch so gemeint, aber die Geschichte lässt sich auch in der lokalen und überregionalen Tagespresse (4) verfolgen und hat neben der satirischen auch eine kriminalistische Seite.
Der biografische Hintergrund
Frau Elisabeth Wilhelmine Hartert lebte erst seit 1895 in Berlin, zunächst in der Magdeburger Str. 16, laut Adressbuch als Witwe und geborene Schmitz. Ab 1897 wohnte sie am Magdeburger Platz Nr. 5 II (Tel. 4433), und hatte als Beruf Maklerin angegeben (Bild 1). Was sie „makelte“, daran stießen sich seinerzeit die Nachbarn, die Sittenpolizei und die Presse: Sie wurde am 14. März 1898 in Untersuchungshaft genommen und ins Gefängnis in Plötzensee gesteckt wegen Kuppelei, Betrugs und gewohnheitsmäßigem Wucher, sie hatte „ihre am Magdeburger Platz belegene Wohnung zur Stätte der wüstesten Orgien für Lebemänner und sittenlose Frauenzimmer gemacht“ (5). Die Hauptverhandlung vor der 1. Strafkammer des Landgerichts I war zunächst angesetzt worden für den 17. August, dann für den 22. September 1898, wurde aber erneut verschoben, da die Akten zu einem auswärtigen Gericht gesandt worden waren. Der erste Gerichtstermin wurde auf den 26. Oktober 1898 festgesetzt.
In diesem Termin kamen die ersten Fakten auf den Tisch: Elisabeth Schmitz wurde am 25. September 1865 in Mönchen-Gladbach (heute: Mönchengladbach) geboren, war katholisch, Tochter eines dortigen Anstreicher-Meisters und besuchte die Elementarschule in Gladbach; sie war insgesamt in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, war seit dem 9. November 1886 mit dem Ingenieur Paul Hartert verheiratet, von dem sie sich 1892 trennte und am 16. Dezember 1896 geschieden wurde, und mit dem sie zwei Jungen hatte: Ernst, geboren am 5. November 1889 in Bremen, und Carl, geboren am 5. Mai 1892 in Berlin. Nach der Scheidung gab sie sich im Berliner Adressbuch als Witwe aus (Bild 1) – etwas, das wir auch früher schon gesehen hatten, in anderen Fällen von Scheidung: Es schützte offenbar die betroffenen alleinstehenden Frauen. Sie sei „vor einigen Jahren nach Berlin gekommen“ mit 10.000 Mark (M) Schulden.
Der erste Prozess
Die der Angeklagten vorgeworfenen Straftatbestände waren:
– Kuppelei: sie machte „ihr Haus zur einer Sammelstätte für junge und alte Lebemänner, sowie für Mädchen und Frauen …die entweder schon verdorben waren oder verdorben werden wollten“ (5). Dies rief die Sittenpolizei auf den Plan. Im Zuge der Untersuchung wurde auch ein Ereignis protokolliert, das man heute als Vergewaltigung bezeichnen muss: Eine junge Frau in ihrem Etablissement war mit Drogen willenlos gemacht worden; ein Weinhändler auf der Potsdamer Straße, der dies ausgenutzt hatte, suizidierte sich, nachdem dies publik geworden war.
– Ein Leutnant Freiherr von N. erschoss sich aufgrund seiner Verschuldung, nachdem er zwei Wechsel (von 5400 und 5100 M) der Angeklagten zahlen musste, die sie nicht prolongierte, sondern zurückforderte. Dies gab Anlass zu der polizeilichen Untersuchung.
– Dabei wurde offenbart, dass Frau Hartert in ihrem Etablissement finanziell bedürftige, verschuldete Militärpersonen, zumeist adlige Offiziere, mit heiratswilligen jungen Frauen vornehmlich jüdischer Herkunft und finanziellem Hintergrund bekannt machte und sich vertragsmäßig zusichern ließ, einen prozentualen Anteil aus der Mitgift im Falle der Heirat zu erhalten. In einem speziellen Fall handelte es sich um den jüdischen Bankier R, dessen Tochter und den Offizier von M, der dafür einen Vertrag mit Frau Hartert über 100.000 Mark geschlossen hatte.
– Betrug: Einem Hauptmann a.D. von M., den die Angeklagte kennenlernte, habe sie vorgespielt, er sei der Vater ihrer beiden Söhne, so daß er nach und nach 30.000 M als Erziehungsgelder zahlte. Außerdem habe sie ihm vorgegaukelt, dass er nach seinem Abschied aus der Armee auf ihrem Rittergut bei Görlitz Verwalter werden könne – sie habe ein Vermögen von 400.000 M.
Die Namen der adligen Heiratskandidaten, ebenso wie die der involvierten Bankiers, wurden in der Berliner Presse zumeist nur diskret abgekürzt, vermutlich auch, um Schadensersatz-Klagen zu vermeiden, während die auswärtigen Zeitungen hier „Roß und Reiter“ mit vollem Namen nannten (6). Die weitere Hauptverhandlung wurde daher auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt „im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit„, wobei sich die Frage stellt, wessen Sittlichkeit – oder Unsittlichkeit – hier geschützt werden sollte.
Es waren 26 Zeugen geladen, die Angeklagte plädierte auf nicht-schuldig. Ein Artikel in der Berliner Börsen-Zeitung versprach „Fortsetzung folgt“, aber die folgte nicht. Der Staatsanwalt ließ die Anzeige wegen schwerer Kuppelei fallen und beantragte 2 Jahre Gefängnis wegen gewerbs- und gewohnheitsmäßiger Kuppelei und Betrugs, Frau Hartert wurde zu 1 Jahr 1 Monat Gefängnis, 1000 M Geldstrafe und 2 Jahre Ehrverlust verurteilt; 4 Monate Untersuchungshaft wurden darauf angerechnet (Bild 2). Ein Teil der Klage (Wucherei) wurde abgetrennt wegen Krankheit des Hauptzeugen.
Die nächste Meldung stammt vom Februar 1899: Elisabeth Hartert wurde aus dem Gefängnis nach Halle überführt, weil sie als Klägerin (!) in einem Prozess gegen den Freiherrn Konrad von Maltzahn auftrat – da haben wir also das Interesse der öffentlichen Sittlichkeit: Der Freiherr hatte sich, als er noch Leutnant des 4. Garderegimentes war, erheblich verschuldet und musste seinen Abschied nehmen. Frau Hartert brachte ihn in Verbindung mit der Tochter der Millionärsfamilie des Bankiers Rosenfeld aus der Königgrätzerstraße, die er heiratete. Er hatte einen Vertrag unterschrieben, wonach er ihr im Fall der Hochzeit 100.000 M schulde. Nachdem er 30.000 M gezahlt hatte, stellte er die Zahlung ein – deswegen strengte Elisabeth Hartert diesen Prozess an, ein ähnlich gelagerter Fall wurde wohl in Münster verhandelt.
Die Flucht und der zweite Prozess
Während des laufenden Revisionsverfahrens wurde Frau Hartert aufgrund eines ärztlichen Attestes vom Moabiter Gefängnis in eine Charlottenburger Nervenanstalt verlegt. Bei ihrer Entlassung aus der Klinik war das Urteil rechtskräftig geworden, die angestrengte Revision war im Juni 1899 verworfen worden. Frau Hartert verschwand daraufhin und wurde steckbrieflich gesucht zum Absitzen ihrer Strafe. Sie wurde erst im Februar 1904 an der belgischen Grenze verhaftet, als sie diese überschreiten wollte – offensichtlich hatte sie sich ins Ausland abgesetzt (Bild 3). Daraufhin wurde der Prozess wegen Wucherei in Berlin fortgeführt, während Frau Hartert im Gefängnis in der Barnimstraße ihre Strafe verbüßte.
Sie war im Gefängnis erkrankt und war „völlig gelähmt, so daß sie durch zwei Personen in einem Krankenstuhl in den Gerichtssaal getragen werden und in diesem Stuhl auch vor dem Gerichtshof verbleiben musste. Sie ist körperlich eine vollständige Ruine, geistig aber außerordentlich rege“ (7).
Die Anklage wegen Wuchers gegen den jetzt gelegentlich „Salon Hartert“ genannten Bordellbetrieb basierte auf drei Fällen, und jetzt wagte auch die Berliner Presse die Benennung der Beteiligten: der Freiherr Konrad von Maltzahn, der Hauptmann von Ploetz vom 163. Infanterieregiment, und der Freiherr von Nettelbladt, der sich suizidiert hatte. Im Fall 1 fand Konrad von Maltzahn, dass er nicht „bewuchert“ worden sei, und auch im Fall von Ploetz war der Nachweis des Wuchers nicht aufrechtzuerhalten. Der Staatsanwalt ließ den Fall Nettelbladt fallen, bestand aber auf Verurteilung zu 6 Monaten und 1000 M in den ersten beiden Fällen. Der Gerichtshof sprach sie dagegen frei, da die Angeklagte, so die Auffassung des Gerichtes, für das Zustandekommen solcher Milllionenheiraten sehr wohl entsprechende Provisionen verlangen könne, „auch wenn ihr Geschäft als besonders moralisch nicht angesehen werden könne“ (7).
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Der Polizeikommissar, der sie 1889 hatte verhaftet lassen, Hans von Tresckow (1863-1934) (Bild 4), erinnerte sich Jahre später (1922) an den Fall und resümierte: „Frau H. habe ich nicht wiedergesehen, aber ich hörte von ihr, daß sie sich eine Villa im Grunewald gekauft habe und mit einem Bauunternehmer glücklich verheiratet sei. Es muß doch ein tüchtiger Kern in ihr gesteckt haben, sonst wäre es ihr nicht gelungen, sich so emporzuarbeiten.“ (8). Ganz so erfolgreich rehabilitiert war sie aber in ihrem weiteren Lebenslauf wohl doch nicht.
Ihre Strafe aus dem ersten Prozess hatte 13 Monate minus 4 Monate Untersuchungshaft betragen. Wenn sie im März 1904 zurück nach Berlin kam und der zweite Prozess im November dieses Jahres stattfand, hatte sie zwischenzeitlich die noch abzusitzenden 9 Monate im Gefängnis verbracht, müsste also ab 1905 frei gewesen sein, wenngleich noch ein Jahr unter Verlust der bürgerlichen Ehre: sie konnte keine Verträge abschließen, nicht wählen, nicht reisen. Im Adressbuch von Berlin tauchte sie 1907 erstmals auf (war also seit 1906 wieder registriert), als Privatiere Elisabeth Hartert-Schmitz, die zunächst in der Blumenthalstraße 18 wohnte, ab 1910 am Schöneberger Ufer 44, jetzt wieder als Witwe, und ab 1910 in der Genthiner Straße 29 wohnte, zusammen mit ihren beiden Söhnen.
Im Jahr 1919 gründete sie mit ihren beiden Söhnen Ernst und Carl, beides Kaufleute, 30 und 27 Jahre alt, eine Firma E. Hartert & Söhne, Textilien Import mit Sitz in der Genthiner Straße. Im Jahr 1921 wurde Carl der alleinige Inhaber dieser Firma. Er verkaufte sie im Januar 1928 an eine Irene Gröninger, die er ein halbes Jahr später (21. Juli 1928) heiratete – die Prokura behielt er. Bereits 1927 hatte die Industrie- und Handelskammer Berlin die Löschung der Firma aus dem Gewerberegister wegen Untätigkeit beantragt, aber nach Widerspruch wurde die Firma erst 1935 gelöscht. Als die Gewerbeaufsicht die gesetzlichen Erben der Firma ausfindig machen wollte, waren diese nicht auffindbar. Die Ehe mit Irene Groeninger war schon 1931 geschieden worden. Carl Hartert heiratete 1943 erneut und starb nach einem Autounfall am 25. September 1952.
Währenddessen hatte Carl Hartert im Mai 1929 eine neue Firma (Hartert & Co.) gegründet, zusammen mit einem Compagnon Arnold Tesche. Diese Firma basierte auf der Alleinvertretung für Deutschland der Parfüm-Firma Johann Maria Farina in Köln (9). Aber es gab bereits zu Beginn Streit, so dass erst ein Mitglied der Firma Farina in die Gesellschaft aufgenommen werden musste (Mai 1929), dann schied Carl Hartert aus der Firma wieder aus (Juli 1929), und schließlich löste Arnold Tesche die Firma im Juni 1930 gänzlich auf.
Und auch Ernst Hartert hatte im Februar 1922 eine Firma gegründet, gemeinsam mit dem Kaufman Paul Spraetz: „Ernst Hartert & Co., Ex- und Import, Commissionen jeglicher Art, Potsdamer Straße 109“. Bereits ein Jahr später schied Paul Spraetz aus der Firma wieder aus. 1925 erhielt ein Johannes Baum Prokura. Schon 1926 beantragte die IHK Einstellung der Firma wegen Untätigkeit. Im Widerspruch gegen die Löschung erläuterte Ernst Hartert, dass er „wegen Wechselbetrügereien“ im Herbst 1925 einen Offenbarungseid leisten musste (persönliche Insolvenz), den Betrieb aber weiterzuführen gedenke. Ernst Hartert starb am 24. August 1934. Er war verheiratet gewesen mit Barbara Nicolay, ein Kind war früh verstorben. Sowohl seine Frau wie auch seine Mutter schlugen es aus, ihn zu beerben – vermutlich wegen der hohen Schulden, die die Firma hatte.
Auffallend in allen vier Handelsregister-Akten, die sich im Landesarchiv fanden (10), war der Umstand, dass immer wieder Gerichte die Akten in laufenden Beweisverfahren angefordert hatten. Nach manchen Quellen führten Frau Hartert und ihre beiden Söhne bis zu 100, nach anderen Quellen sogar bis zu 500 Prozesse. Elisabeth Hartert wurde 1924 vom Landgericht Bonn wegen Preistreiberei verurteilt; in diesem Gerichtsverfahren nannte sie der Gerichtsvorsitzende „eine gemeingefährliche Betrügerin und Wucherin, die seit Jahren die Gerichte beschäftige“ (11).
Die letzten Meldungen brachten Elisabeth Hartert in die Nähe der NSDAP, auch wenn sie und die Söhne keine Parteimitglieder waren: Die sozialdemokratische Zeitung Vorwärts berichtete am 17. Juni 1932, das „Mutter Hartert“, inzwischen in Caputh wohnend, in ihrem Haus den späteren Reichspropaganda-Minister Joseph Goebbels (1897-1945) zu Gast hatte (Bild 5). Elisabeth Hartert geborene Schmitz starb am 22. Januar 1936 in einer Privatklinik in Charlottenburg (Dr. Bernhard Jungmann Gynäkologe und Chirurg, Windscheidtstraße 36).
Was von der Geschichte geblieben ist? Im Lützow-Viertel hält sich hartnäckig die Mär, es habe in der Markthalle am Magdeburger Platz – im ersten Stock – früher ein Bordell gegeben – die Geschichte des Bordells am Magdeburger Platz ist wahrscheinlich der Ursprung dieses Gerüchtes.
Literatur
- Walter Benjamin. Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Frankfurt, Suhrkamp-Verlag 1987.
- Heinrich Mann: Im Schlaraffenland: Ein Roman unter feinen Leuten. Frankfurt, Rowohlt Verlag 1988.
- Alfred Kerr: Was ist der Mensch in Berlin? Briefe eines europäischen Flaneurs. Berlin, Aufbau Verlag 2017.
- Berliner Tagespresse: Berliner Börsen-Zeitung, Berliner Tagblatt/Handelszeitung, Vorwärts (Berliner Volksblatt).
- Berliner Börsen-Zeitung vom 23.9.1898.
- Auswärtige Presse: Dresdner Nachrichten, Dortmunder Zeitung, Hamburger Fremdenblatt, Hannoverscher Kurier, Langenberger Zeitung, General-Anzeiger für Dortmund, Bergische Wacht, Der Sächsische Erzähler u.a.m.
- Vorwärts 8.11.1904
- Hans von Tresckow: Von Fürsten und anderen Sterblichen. Erinnerungen eines Kriminalkommissars. Berlin, F. Fontane & Co. 1922.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Maria_Farina
- Handelsregister-Akten im Landesarchiv Berlin: A Rep. 342-02 Nr. 34018, Nr. 46898, und Nr. 491509; A. Rep. 350 Nr. 16906.
- Vorwärts vom 17. Juni 1932.