Spaziergang mit Lia Hiltz und Paul Enck (17): Das „Euthanasie“-Mahnmal an der Philharmonie

Bild 1: Copyright Lia Hiltz

Lias Bild (Bild 1) provoziert gleich eine ganze Reihe von Denkanstößen. Zum einen: Euthanasie im Zusammenhang mit Nationalsozialismus sollte immer in Anführungszeichen geschrieben werden, denn Euthanasie heißt „schöner Tod“ oder „guter Tod“, aber das, was die Nationalsozialisten organisiert hatten, war die systematische Tötung von mehr als 300.000 vor allem geistig behinderter Menschen in Heimen und psychiatrischen Kliniken in ganz Europa, und war weder gut noch schön, das war Mord. Das Mahnmal heißt auch T4-Denkmal, wobei T4 für die Adresse Tiergartenstraße 4 steht, dem Haus, in dem dieser Mord geplant wurde. Das sog. Euthanasie-Programm begann 1933 in Brandenburg-Görden und dauerte bis zum Kriegsende an.

Die Tiergartenstraße war von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum zweiten Weltkrieg bevorzugtes Wohnviertel der Reichen, vor allem Militärs und Unternehmer, und so lebte an dieser Adresse ab 1750 zunächst ein Oberstleutnant von Kleist aus der Uradel-Sippe der von Kleists, dann ein Bankdirektor Reichert, ein Bankier namens Weißbach und zuletzt der Textilfabrikant Georg Liebermann (1844-1926). Im Jahr 1935 mietete die NSDAP zunächst die Villa von den Kindern des Fabrikanten, zusammen mit einem Nachbargebäude; sie wurde zum wiederholten Male umgebaut und 1940 „arisiert“, d.h. die jüdischen Besitzer wurden enteignet und mussten das Gebäude unter seinem Marktwert verkaufen; Käufer war das Reichsfinanzministerium (1) (Bild 2).

Bild 2: oben: Die Villa Tiergartenstraße 4 (Aufnahme vor 1921, Fotograf unbekannt, aus dem norwegischen Nationalarchiv, aus Wikipedia, gemeinfrei); unten links: Abholungsbus mit Fahrer vor der NS-Tötungsanstalt Hartheim (Quelle: Foto aus dem Niedernhart Prozess. Unbenannter Fotograf; aus Wikipedia, gemeinfrei); unten rechts: Das Denkmal der grauen Busse in Weißenau, einem Ortsteil von Ravensburg, fotografiert von Andreas Praefcke Juli 2008, aus Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Denkmal_der_Grauen_Busse, gemeinfrei)

Fragen, die sich aufdrängen: Haben die Morde an den geistig behinderten Heimbewohnern etwas mit den Judenmorden in den Konzentrationslagern zu tun? Die historische Forschung sagt „ja, sie haben“: Nicht nur wurden die Tötungen der „Euthanasie“ als Testfälle für effektives Töten in den KZ angesehen und in die KZ „exportiert“; sie wurden auch aufgrund der Erfahrung mit Massentötungen in den KZ zunehmend verfeinert und rationalisiert – wenngleich solch ein Ausdruck merkwürdig klingt, aber so war die Ideologie des Nationalsozialismus (1). Eine andere Frage ist, ob es in den von den Nationalsozialisten besetzen und beherrschten Gebieten in Europa „Euthanasie“ gegeben hat. Zumindest für die dem Deutschen Reich angeschlossenen Gebiete (Österreich, Elsass-Lothringen, das Protektorat Böhmen und Mähren sowie den Warthegau im ehemaligen Polen) ist dies gut belegt, und auch Patienten in Einrichtungen Polens und der Sowjetunion wurden Opfer von Erschießungen, nicht jedoch in Holland, Belgien und Frankreich. Und schließlich: Ist es bei verbündeten Nationen mit faschistischer Ideologie (Italien, Spanien) auch zur systematischen Ermordung Behinderter gekommen? Hier sagt die Forschung nein, wobei unklar ist, was dies verhindert hat. Fraglich daher auch, ob es die stärkere christliche Tradition zumindest in den südeuropäischen Ländern war, immerhin haben kirchliche Proteste auch in Deutschland in den Jahren um 1942 dafür gesorgt, dass das Morden zwar nicht verhindert, aber zumindest gebremst wurde – aber in aller Stille weiterging.

Für die Betroffenen in den Heimen war die – unbekannte – Bedrohung mit einem einfachen, schlichten Bild verbunden: den „grauen Bussen“ der GEKRAT, der GEmeinnützigen KRAnkenTransportgesellschaft, einer nationalsozialistischen Scheinorganisation, die die  Kranken abholte und in die Gaskammern von Grafeneck, Brandenburg, Heilbronn und anderen Orten verbrachte (2). Das weit eindrucksvollere Denkmal des Grauen Busses (Bild 2) machte vom Januar 2008 bis Januar 2009 am früheren Ort der Villa Tiergartenstraße 4 Station, bevor es weiterfuhr nach Brandenburg.

Literatur:

(1) Götz Aly, Hrsg. Aktion T4 1939-1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Berlin, Edition Hentrich 1987.
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Denkmal_der_Grauen_Busse

 

Redaktion

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