Spaziergang mit Lia Hiltz und Paul Enck (4): Prostitution

Die Prostitution ist so alt wie die Heuchelei darüber:

Im Berlin der Jahre um 1800, also vor mehr als 200 Jahren, gab es zwischen 250 und 1000 Huren, so sagt die Geschichtsschreibung, je nachdem, wie weit man den Begriff fasste, ob man Gelegenheitsprostitution einschloss oder nicht, ob „Schankdirnen“ mitgezählt wurden oder ob man ausgehaltene „Maitressen“ mit eigenem Haushalt kannte und einbezog – 1846 war das offenbar noch möglich (s. Bild 2). Bei einer Gesamteinwohnerzahl von etwa 150.000 (plus 25.000 Militärpersonen) machte dies also zwischen 0,1 und 0,6% der Bevölkerung aus – oder bei der gegenwärtigen Größe von Berlin (3.664.000 Ende 2020) zwischen 4000 und 24000 Prostituierte – ist das nun viel oder wenig für eine Stadt wie Berlin und Grund zum Klagen?

Bild 2: Prostitution 1846

Das Preußische Allgemeine Landrecht (das dem Prinzip nach bis 1872 für den Strafrechtsteil und bis 1900 für den Zivilrechtsteil gültig war) erkannte Prostitution als Beruf an, solange es in Bordellen ausgeübt wurde, das heißt, solange die Prostituierten sich registrierten und einer gewerblichen Überwachung, z.B. ihrer Gesundheit, unterwarfen. Im Paragrafen 999 hieß es: „Liederliche Weibespersonen, welche mit ihrem Körper ein Gewerbe treiben wollen, müssen sich in die unter der Aufsicht des Staats geduldeten Hurenhäuser begeben“. Als im Zuge der Revolution der 1830er und 1840er Jahre die Zahl der Prostituierten stieg, parallel zur Zahl der in Berlin stationierten Militärs, die wohl die Hauptkonsumenten der angebotenen Sexdienstleistungen gewesen sein dürften, und die biedermeierliche Bürgerlichkeit sich über die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten und unehelichen Geburten aufzuregen begann, wurden die Bordelle 1846 kurzerhand verboten, jedoch ohne dass dies die Prostitution wesentlich eindämmte: Die Schätzung der Anzahl Prostituierter für die Jahre um 1845 variierte zwischen 1.200 und 12.000 (jetzt bei einer Einwohnerzahl von 400.000), also zwischen 0,3 und 3% – viel oder wenig? Hydra schätzt heute 8000 Prostituierte in der Stadt, also eher im Bereich von 0.2% – beruhigt uns das?

Der bemerkenswerteste Effekt aber dieses Verbotes war, dass nun die ehemaligen Bordellbesitzer diejenigen waren, die am lautesten den Verfall der Moral beklagten; in einer mehrseitigen Petition an den Magistrat der Stadt Berlin schrieben sie am 7. April 1848: „ … es existieren jetzt mindesten 5000 Dirnen in Berlin, verheiratete wie unverheiratete, welche unter dem Auge des Gesetzes und der Behörden die Prostitution frank, frei, ohne Behinderung und mit einer solchen abscheulichen Frechheit treiben, dass ein ehrbarer Mann, eine anständige Dame und ein keusches Mädchen diejenigen Straßen, worin jene ihre Hauptnahrung suchen, am Abend nicht mehr zu betreten wagen …“ und forderte „zur Herstellung der allgemeinen Ordnung, zur Rettung der Sittlichkeit und zur Festigung der Tugend und der religiösen Ruhe“ die Wiedereinrichtung der Bordelle – welch eine Scheinheiligkeit!

Nach der Niederschlagung der Revolution 1848 sollte dann das Bordellverbot wieder aufgehoben werden, weil man sich Sorgen zu machen begann wegen zunehmender Geschlechtskrankheiten unter den Soldaten. Eine königliche Kabinettsorder von 1850 stellte dies in das Ermessen der lokalen Polizeibehörden, die Bordelle in Berlin öffneten wieder, 1854 wurden sie wieder geschlossen, und 1856 wieder geöffnet – und Prostitution außerhalb der Bordelle wurde „gewerbsmäßige Unzucht“ und laut Preußischem Strafgesetzbuch von 1851 strafbar.

Literatur: Rüdiger Hachtmann. „Unerhörte Schamlosigkeit“, ehrbare Bürger und „frühere Bordellbesitzer“. Prostitution und Prostitutionsverdacht in Berlin zwischen 1790 und 1850. In: Wolfgang Voigt, Kurt Wernicke, Hrsg. Stadtgeschichte im Fokus von Kultur- und Sozialgeschichte. Festschrift für Lorenz Demps. Berlin, Trafo Verlag 2013 (2. Auflage), S. 193-226

 

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