Ausgebucht war die Führung der Volkshochschule Tempelhof-Schöneberg am letzten Samstagnachmittag: 20 Teilnehmerinnen und ein Mann folgten Sibylle Nägele und Joy Markert auf ihrer mehr als 90-minütigen Tour „Starke Frauen aus Schöneberg“, die auch in den Bezirk Tiergarten führte und am Ende in der Galerie Max Hetzler in den Mercatorhöfen (Potsdamer Straße 77-87) bei einer starken Frau von Heute den Schlusspunkt setzte: bei Katharina Grosse, einer der bedeutendsten deutschen Malerinnen und ihrer Ausstellung „Spectrum without Traces“ (https://www.mittendran.de/?p=26028).
Vor der blauen Haustür in der Potsdamer Straße 139 startete die Führung mit der beeindruckenden Persönlichkeit von Lina Morgenstern, geb. Bauer (1830-1909): die überzeugte Jüdin machte sich mit großem Tatendrang und Erfolg für die Wohlfahrt und die Frauenrechte stark. Schon als 18-Jährige gründete sie ihren ersten Verein, den „Pfennigverein zur Unterstützung armer Schulkinder“.
Später hielt die verheiratete Lina Morgenstern in Berlin als Kinder- und Kochbuchautorin nicht nur ihre Familie mit fünf Kindern finanziell über Wasser (ihr Mann Theodor hatte als Kaufmann sein Vermögen verloren), sondern gründete 1899 den „Frauenverein zur Beförderung Fröbelscher Kindergärten“, die in Preußen zunächst verboten, nach Aufhebung des Verbots aber immer noch nicht gern gesehen wurden. Morgenstern plante darüber hinaus mit Unterstützung von Rudolf Virchow die Bildung von Volksküchen (1866) in Berlin und die Versorgung von verwundeten Soldaten und Kriegsgefangenen, die von der Front der verschiedenen preußischen Kriege im Güterwaggon in die Heimat verfrachtet wurden, und für die in keiner Weise vorgesorgt war.
1896 rief Morgenstern den ersten „Internationalen Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen“ ein. Zudem gründete sie den Kinderschutzverein (1868), eine Mädchen-Akademie zur Fortbildung ((1869), und den ersten Bildungsverein für Arbeiterinnen, sowie die erste Krankenkasse.
Nicht unerwähnt wollte Sibylle Nägele die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831-1919) lassen, die in der Potsdamer Straße in Höhe der heutigen Bissingzeile lebte und dort einen literarischen Salon pflegte. Als berühmtes Zitat ist von Dohm überliefert: „Menschenrechte haben kein Geschlecht!“
Die Führung ging weiter zur Bülowstraße 90, wo eine Gedenktafel an den Verleger Samuel Fischer erinnert. Hier im Haus lebten von 1907-1911 die beiden künstlerisch begabten Schwestern Luise Wolf (1860-1942) und Julie (mit Künstlernamen) Wolfthorn (1864-1944). Die Übersetzerin großer französischer und englischer Literatur und die anerkannte Malerin wurden im Nationalsozialismus als Jüdinnen verfolgt und kamen im Konzentrationslager Theresienstadt ums Leben. Zwei Stolpersteine erinnern an sie in der Kurfürstenstraße 50, ihrem letzten Wohnort.
Zurück in der Potsdamer Straße wurde die Schauspielerin und Sängerin Marlene Dietrich (1901-1992) zum Thema: Sie lebte als Kind ein paar Monate in der Potsdamer Straße 116. Daran erinnert eine Gedenktafel des im Kiez ansässigen Künstlers Rolf Hemmerich.
Etwas weiter und links ab in der Pohlstraße 62-64 erläuterte Sibylle Nägele die Bedeutung des dortigen Backsteinbaus, errichtet vom Berliner Stadtbaurat Herbert Blankenstein (+1910): es handelt sich um das einzig verbliebene ehemalige Lehrerwohnhaus der ehemaligen Charlotten-Mädchenschule. Hier war der Wirkungsort von Helene Lange (1848-1930), welche die gleichberechtigte Teilnahme von Mädchen am wissenschaftlichen Unterricht gefordert hatte und seit 1889 hier auch konkret in Real- und Gymnasialkurse für Frauen umsetzte. Im Jahr 1928, zu ihrem 80. Geburtstag, verlieh ihr die Preußische Regierung die Große Staatsmedaille „Für Verdienste um den Staat“, zahlreiche Mädchenschulen erhielten ihren Namen.
Da eine freundliche Hausbewohnerin der Besuchergruppe die Eingangstür öffnete, konnte in der hohen Halle das Kreuzrippengewölbe bewundert werden, das deutlich daran erinnerte, dass Architekt Blankenstein auch etliche Kirchen Berlins geplant hat, darunter die Zwölf-Apostelkirche.
Neben dem Hauptthema wurden von Sibylle Nägele auch Kostbarkeiten am Wegesrand erläutert, wie etwa das „Kleine Grosz Museum (Bülowstraße 18) und der Neubau des architektonisch außergewöhnlichen Glashauses „June 14“ (Ecke Froben-/Kurfürstenstraße) der Berliner Architekten Meyer-Grohbrügge & Chermayeff.
Wer mehr wissen möchte über den reichen und kontrastreichen Kosmos der Potsdamer Straße, dem sei das 440 Seiten starke und großformatige Werk von Sibylle Nägele und Joy Markert aus dem Metropolverlag empfohlen: „Die Potsdamer Straße – Geschichten, Mythen und Metamorphosen“.