(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com)
Bis 1799 kannte man in Berlin keine Hausnummern: Es gab zwar etwa 8000 Häuser in etwa 100 Straßen, Gassen und Gässchen, aber noch keine Postzustellung. Wer eine Adresse wissen wollte, ging zum zugehörigen Polizeirevier (18 gab es davon im Jahr 1799) und fragte oder er konsultierte den Adresskalender, wenn es um eine Behörde oder eine wichtige Person ging oder fragte sich durch und bekam – in den meisten Fällen – eine Auskunft wie diese: Im Haus der Witwe des Fleischermeisters Meier hinter der Schleusenbrücke links; das reichte offenbar aus. Dann wollte der Polizeipräsident von Berlin, Philipp Eisenberg (1756–1804) dies ändern (vermutlich gab es mit dem bisherigen System doch Probleme, Berlin wuchs nämlich sehr schnell) und er schlug vor, alle Häuser durchzunummerieren von 1 bis 8000 – so was gab es schon, in Leipzig, in Stettin, in Halle, selbst in Köln unter französischer Besatzung. Gottseidank kam es nicht dazu: die Einsicht, dass nicht alle Bürger (“nicht drei von zehn“, so der Polizeipräsident (1)) in der Lage wären, Zahlen über 100 zu lesen und zu verstehen, führte schließlich dazu, die Nummerierung in jeder Straße neu zu beginnen. Dies allerdings mit der typischen preußischen Variante: rechts aufsteigende Nummern bis zum Ende, und links weiter aufsteigend zurück bis zum Beginn der Straße, auch Hufeisen-System genannt.
Das Chaos mit den Hausnummern
Hundert Jahre nach dieser Diskussion über die richtige Art der Hausnummerierung hatten die Berlinerinnen und Berliner das Zählen offenbar immer noch nicht gelernt, wie wir sehen werden.
Als die Lützowstraße 1849 das erste Mal im Adressbuch der Stadt Berlin auftauchte, hieß sie Lützowerwegstraße (oder Lützowerweg Straße, oder Lützower Wegstraße), nachdem sie zuvor der Lützower Weg war, der Feldweg über Schöneberger Grund vom Halleschen Tor nach Charlottenburg, wohin 1719 das Dorf Lützow (oder Lietzow) eingemeindet worden war (s. mittendran.de vom 3.6.2020). Die Erweiterung der Stadt Berlin nach dem Lenné-Plan von 1841 sah vor, den nördlichen Teil von Schöneberg und die östlichen Ausläufer von Charlottenburg nach Berlin einzugemeinden. Die Schöneberger verloren auf diese Weise ein paar tausend Einwohner – und die entsprechenden Steuereinnahmen.
Der westliche Teil der Lützowstraße von der Potsdamer Straße bis zum Lützowplatz existierte 1849 allerdings noch nicht. Die Nummerierung der Lützowerwegstraße begann laut Adressbuch an der Potsdamer Chaussee (ab 1841: Potsdamer Straße) mit der Nummer 1 auf der südlichen Seite (heute Nr. 92), lief östlich bis zur Wörlitzer Straße (heute: Flottwellstraße) und endete dort mit der Nummer 19 (heute Nr. 113).
Die nördliche Seite wurde erst später bebaut, aber es gab bereits Grundstücke, die ihre Nummern noch von der Schöneberger Nummerierung der Potsdamer Chaussee erhalten hatten (s. mittendran vom 21.3.2022), nämlich die Nummern 43 und 44 sowie 44a bis 44c, Straße „Nach dem Halleschen Thore“ (s. Bild 1); die letzten beiden Grundstücke an diesem Weg gehörten dem Druckereibesitzer Hänel, dessen Druckerei einer der ersten Gewerbebetriebe im Viertel war. Mit der weiteren Bebauung musste die Nummerierung der neuen Häuser diesen vier Bestandsgrundstücken angepasst werden. Hinter der Hänel’schen Druckerei wurden die Nummern nach dem Hufeisensystem – also mit fortlaufender Nummerierung Richtung Potsdamer Straße – mit 24 bis 20 fortgesetzt. Erst nach der Eingemeindung dieses Teils von Schöneberg, in den Jahren 1865 und 1866, erhielt diese Seite der Straße die Nummern 42 bis 50, wiederum von der Potsdamer Straße aus gezählt.
Als auf der anderen, westlichen Seite der Potsdamer neue Häuser entstanden (ab etwa 1860), fing man an der Ecke Potsdamer Straße erneut an und nannte das erste Haus „Hampel’sches Haus“. In den nachfolgenden Jahren entstanden dort das Menge’sche, das Baumann’sche I und II, das Müller’sche, das Rüger’sche, das Beyer’sche, das Sarré’sche, das Wothge’sche, das Naue’sche und das Schipke’sche Haus I und II, ohne dass diese zunächst Nummern erhielten.
All dies konnten offenbar die Adressbuchautoren nicht mehr nachvollziehen, obwohl der Plan in der Akte der Polizei (Bild 2, die schwarzen Zahlen in den Häusern) hier eindeutig war.
Deshalb richtete der Bezirksvorsteher A. Lichterfeld 1865 folgendes Gesuch an den Polizeipräsidenten Otto Friedrich Karl von Bernuth (1816–1887):
Berlin, den 13.6.1865
Eurem königl. hochlöbl. Polizei-Präsidio habe ich im Namen meiner Bezirksgenossen folgendes Gesuch anzutragen und bitte um hochgeneigte recht baldige Erfüllung.
Die Lützowerweg Straße bezeichnet in ihrem Namen eine Straße und einen Weg; da nun jedenfalls eins von Beiden genügend ist und durch eine Kürzung des Namens nicht verändert wird, so daß dadurch bei den vielen neuen Straßen keine Verwechslung stattfinden kann, so beantrage ich gehorsamst, die Straße mit dem einfachen Namen
“ Lützower Straße „
hochgeneigtest versehen lassen zu wollen.
Zugleich geht eine zweite, gehorsame Bitte noch dahin, ein hohes Polizeipräsidium wolle recht baldigst dafür Sorge tragen, daß die Häuser in der Lützowerweg- wie Steglitzer Straße eine richtige Reihenfolge der Hausnummern erhalten, da es jetzt den jetzt Eingeweihtesten oft unmöglich wird, sich zurecht zu finden.
Um hochgnädigste recht baldige Erfüllung obiger Wünsche bittet ganz gehorsamst
gez. A. Lichterfeld, Bezirksvorsteher
im Namen der Bewohner der Lützowerweg und Steglitzer Straße (2)
Lichterfeld war Kaufmann für Stahl- und Eisenwaren und Bezirksvorsteher in den Bezirken 53 und 54. Er wusste, wovon er sprach, denn er selbst wohnte in der Lützowstraße. Seine Eingabe war erfolgreich: Ab 1868 beginnt die neue Nummerierung an der Flottwellstraße, läuft auf der rechten Seite über die Potsdamer und Genthiner Straße bis zur Nummer 56, wo 1871 der Lützowplatz entsteht, und links zurück bis zur Ecke Wörlitzer Straße, wo sie mit der Nummer 113 endet (Bild 2, die roten Zahlen vor den Häusern).
In einem Punkt wich die Lösung aber von Lichterfelds Vorschlag ab: Der neue Name lautete nicht Lützower Straße, sondern Lützowstraße. Wie wir gesehen haben (mittendran vom 21.9.2020), war dem König und Polizeipräsidenten der Ursprung des Straßennamens wohl bekannt, aber man beließ es offenbar bei dem weit verbreiteten Irrglauben, dass die Straße nach einem Helden der Befreiungskriege, dem preußischen Generalmajor Ludwig Adolf Wilhelm von Lützow (1782–1834), benannt worden war, um die Lützowstraße in den „Generalszug“ des Hobrecht-Plans einbeziehen zu können.
Was ist der „Generalszug“?
Seit langem gab es in Berlin die dominante Benennung von Straßen nach Militätpersonen, nach 1860 dann für neue Straßen vor allem im Süden der Stadt nach Generälen und Gefechten der Befreiungskriege, später nach weiteren preußischen Generälen sowie mit militärischem Bezug. Und das war in Berlin immer so, wie der Stadtkenner Julius Löwenberg bereits 1850 in seinem Reiseführer für Berlin feststellte: „Eine besondere Eigenthümlichkeit der Straßen Berlins sind die vielen militairischen Namen, wie sie fast keine andere Stadt in solcher Menge aufzuweisen hat … In anderen grossen Städten sind dergleichen Namen volksthümlicher“ (3) (Bild 3).
Und sie haben dies gleich mit der Benennung der Körnerstraße (1865) noch einmal unterstrichen: Starb doch das Lützowsche Freikorps-Mitglied Carl Theodor Körner (1791–1813) in den Befreiungskriegen am 26. August 1813 beim Dorfe Lützow, allerdings nicht in dem bei Charlottenburg, sondern dem in Mecklenburg, 15 km westlich von Schwerin.
Im Weiteren fiel beim Entwirren des Hausnummern-Durcheinanders in der Lützowstraße auf: Die Grundstücke in der Lützowstraße waren zwischen den (neuen) Hausnummern 1 bis 36 und 79 bis 113 im Grundbuch von Alt-Schöneberg eingetragen (Bild 2, die schwarzen Zahlen neben den Häusern), während alle Häuser jenseits der Genthiner Straße auf ehemals Charlottenburger Grund standen und dort registriert waren.
Auch wenn es zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr spielte, weil Berlin sie sich einverleibt hatte, so ist es doch heute hilfreich zu wissen, wenn man die Geschichte einzelner Grundstücke und Häuser rekonstruieren will.
Hufeisen oder Zickzack
Das Hausnummernproblem ist auch mehr als 200 Jahre nach seiner Einführung 1799 nicht erledigt, wie wir heute wissen. Etwa 50 % der Straßen in Berlin weisen nach wie vor das Hufeisensystem mit all seinen Nachteilen auf und sorgen nicht nur bei Touristen für Verwirrung (4). In all den Jahren seit 1799 hat es jedoch nicht an Verbesserungsvorschlägen gefehlt, von denen wir einige unseren Lesern nicht vorenthalten möchten.
Als die Hausnummern eingerichtet wurden, zählte Berlin fast 100 Straßen, und an eine Stadterweiterung, wie sie wenige Jahrzehnte später stattfinden sollte, dachte offenbar niemand. Daher konnte ein Berlin-Reiseführer 1830 noch wie folgt formulieren: „Die Pariser Einrichtung, wo auf der einen Seite der Straße sich alle geraden, auf der entgegen gesetzten sich aber alle ungeraden Hausnummern befinden, ist bei sehr langen Straßen wohl gut, weiter hat sie aber auch vor der unsrigen keinen Vorzug“ (5). Dabei war von Beginn an klar, dass Grundstücksteilungen zu Problemen mit der Nummerierung führen mussten. In solchen Fällen konnte man sich noch mit hinzugefügten Buchstaben behelfen. Das Problem mit der Straßenverlängerung löste man kurzerhand dadurch, dass dem neuen Teil der Zusatz „Neue“ (z.B. Neue Friedrichstraße) oder dem alten Straßenteil die Vorsilbe „Alte“ (z.B. Alte Jakobstraße) beigefügt wurde. Umbenennungen der Straßen gingen oftmals mit Neunummerierungen einher.
Früh fiel auf, dass durch Straßenverbreiterung und die Anlage von Plätzen Hausnummern verloren gingen, manchmal ganze Serien von Nummern. Neunummerierungen oder Systemänderungen vom Hufeisen- zum Zickzacksystem führten dazu, dass Häuser des Öfteren zwei verschiedene Nummern trugen, worüber auch viele Jahre später noch Klage geführt wurde: Am 22. März 1873 notierte die „Staatsbürger Zeitung“ in ihrer 121. Ausgabe: „… tragen in der Körnerstraße eine große Anzahl Häuser noch doppelte Nummern, so daß Niemand weiß, welche Nummer richtig ist. Am auffälligsten ist diese Erscheinung bei dem Eckhause der Lützowstraße, welches die Nummer 21 mit großen Zahlen an der Wand, geradeüber der Straßenlaterne trägt, während die richtige Nummer 26 nur auf einem kleinen Schilde über der Hausthür befestigt ist“ (6).
Unklare Hausnummern war eines, fehlende Sichtbarkeit, insbesondere in der Dunkelheit und bei mangelhafter Straßenbeleuchtung, ein anderes Thema: „Da an jeder Straßenecke Laternen stehen, wäre es empfehlenswert, auf den Scheiben die Haunummern zu verzeichnen, die bis zur nächsten Straßenecke kommen … Auch auf den Eckhäusern selbst könnte der Hinweis stehen“, notierten die Neuesten Nachrichten am 28. März 1886 (6). Die National Zeitung pries am 22. Januar 1891 zwei Patente, die es Fußgängern bzw. Kutschern erlauben sollte, mithilfe eines an einem Stock oder Regenschirm befestigten Phosphor-Lichtes die Hausnummern anzuleuchten. Und ein Scherzbold schlug im März desselben Jahres in der gleichen Zeitung vor, dass doch Berlin besser nach Charlottenburg eingemeindet werden solle; immerhin habe Charlottenburg das Problem mit den Hausnummern durch Schilder an den Straßenlaternen längst gelöst, während eine solche Lösung in Berlin noch immer auf sich warten lasse.
Ein L. Bohnstedt schlug 1867 in einer Bauzeitung (7) vor, die Straße in gleichmäßige Abschnitte von z.B. zehn Metern zu teilen und diese zu nummerieren – rechts gerade, links ungerade. Jedem Haus werde die Nummer des Abschnittes zugewiesen, in dem es stehe. Da auch damit das Problem nicht gelöst war, fand auch dieser Vorschlag keinen Zuspruch. So wird sich das Chaos mit den Hausnummerierungen wohl noch eine Weile hinziehen. In Berlin dauert bekanntermaßen alles etwas länger.
Literatur
- Geheimes Staatsarchiv. Akte II HA Abt. 14, Tit. CXV Sect, 23, (Die Straßen in Berlin 1898-1806), darin die Denkschrift des Polizeipräsidenten Eisenberg (Entwurf zum Numeriren der Häuser in Berlin. Berlin 1798. Bei Johann Friedrich Unger), der Vorschlag von Eisenberg vom 6. September 1799 und die Kabinettsorder Friedrich Wilhelm III vom 28. September 1799). Für eine ausführlichere Diskussion: Bernhard Wittstock. Ziffer Zahl Ordnung. Die Berliner Hausnummer von den Anfängen Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart im deutschen und europäischen Kontext. Inauguraldissertation, TU Berlin 2011.
- Landesarchiv Berlin (LAB). Akte Nr. A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 17988 (Benennung Lützowerwegstraße, darin: Eingabe vom 13. Juni 1865)
- Julius Löwenberg. Der Fremde in Berlin und Potsdam. 7. Auflage. K.H.Schroeder Verlag 1850 (S.47).
- https://www.tagesspiegel.de/berlin/datenanalyse-wie-das-chaos-bei-den-berliner-hausnummern-entstand/13426854.html
- J.G.L.Helling. Geschichtlich-statistisch-topographisches Taschenbuch von Berlin und seinen nächsten Umgebungen. Berlin, Bei H.A.W.Logier 1830 (Public Domain) (https://digital.zlb.de/viewer/fulltext/15444624/258/) (Seite 167)
- LAB: Akte A Pr. Br. Rep. 30 Tit 131 Nr. 17787 (Generelle Bestimmungen in Bezug auf die Benennung der Straßen und Nummerierung der Grundstücke in Berlin).
- L.Bohnstedt. Ein Vorschlag die Häusernummerierung in Städten betreffend. Deutsche Bauzeitung Jg. 1, 1867, S. 330f