(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com)
Diese beiden Straßen waren keine Straßen für den Geldadel des Berlins der Gründerjahre wie die Kurfürstenstraße, sie wurden zuallererst von Künstlern und Akademikern „entdeckt“ und besiedelt, obwohl sie Teil des Kielgan’schen Villenviertels waren (s. mitteNdran vom 6.4.2021); das gilt vor allem für die Buchenstraße. Jede Straße hatte nur 5 Villen, einige davon als „Zwillingsvillen“ angelegt, um die Grundstücke optimal zu nutzen; es gab keinen Durchgangsverkehr, beides waren Stichstraßen, in die man nur hinein ging oder fuhr, wenn man dort etwas zu tun hatte. Beide Straßen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg „eingezogen“, weil bis auf zwei alle Villen zerstört waren und der Grund und Boden der französischen Gemeinde zum Zwecke des Baus des französischen Gymnasiums zur Verfügung gestellt wurde (1) – die Franzosen waren schon länger in der Stadt, aber damit werden wir uns ein andermal beschäftigen (Bild 1).
Fangen wir mit der Buchenstraße an: 1880 war noch alles Baustelle, die Grundstücke gehörten zum Teil noch dem Kilian-/Kielgan’schen Erben, Otto Gabcke, Schwiegersohn des ehemaligen Gärtners und für die kommenden 35 Jahre derjenige, der die Geschicke des Kielgan-Viertels leiten sollte.
Aber schon 1885 wohnten (als Eigentümer) in Nr. 2 Professor Karl Gussow (1843-1907), Maler an der Akademie der Künste, in Nr. 3 der Bildhauer Prof. Ernst Herter (1846-1917), ebenfalls an der Akademie der Künste, und in Nr. 6 Professor Carl Scheibler (1827-1899), ein Chemiker an der Universität. 1888 ist auch Nr. 4 bewohnt, mit Prof. Fritz Schaper (1841-1919), ebenfalls Bildhauer an der Berliner Kunstakademie, und in Nr. 5 wohnt ein Kommerzienrat Kettner.
Die vier Professoren haben ein umfangreiches Werk hinterlassen, das die Zeit überdauert hat: Professor Scheibler war Spross einer rheinländischen Unternehmensfamilie und wurde ein ausgewiesener Experte für die Chemie des Zuckers, er betrieb – wohl nicht in seiner Villa, er hatte dort schließlich noch Mieter – das zur Landwirtschaftlichen Universität gehörende Laboratorium des Vereins für die Rübenzuckerindustrie des Deutschen Reiches, das auch das Institut für Zuckerindustrie hieß und die erste Forschungseinrichtung auf dem Lebensmittelsektor weltweit war (2) (Bild 2).
Bei den beiden Bildhauern ist die Hinterlassenschaft heute in Museen, öffentlichen Gebäuden, Parks und Friedhöfen in Berlin und anderswo zu besichtigen (Bild 3).
Professor Gussow war vor allem Portraitmaler, seine Bilder hängen heute nicht nur in Berliner Museen, sondern sind weltweit zu finden. 1880 stellte er seine Lehrtätigkeit an der Akademie ein und betrieb eine private Malschule in seinem Privathaus, nicht zuletzt aus Protest gegen die restriktive und konservative Ausbildungspolitik der Berliner Hochschule für die bildenden Künste: dort wurden, unter Leitung des Malers Professor Anton von Werner (1853-1915), dem wir schon einige Male begegnet sind, bis nach dem 1. Weltkrieg keine Frauen zur Ausbildung zugelassen, mit zum Teil recht fadenscheinigen Gründen; wir werden darüber bei anderer Gelegenheit berichten. Gussow nahm deswegen vor allem Frauen in seine private Malschule auf, darunter Mete Fontane, die Tochter Theodor Fontanes, aber auch die Malerin Elisabeth Lüderitz, deren Werk wir für die Nachwelt wiederentdeckt haben (3). Aber nicht nur in kunstpolitischer, sondern auch in künstlerischer Hinsicht unterschied sich Gussow von seinem Kollegen an der Akademie: Wie in den Skulpturen und Bildern (s. Bild 3) sichtbar wird, war die akademische Kunstauffassung dieser Zeit die einer Hinwendung zum Klassischen, zu an griechischer Mythologie orientierten Themen und Objekten; die Neuerungen in der Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wie beispielsweise die Kunst und die Künstler der Berliner Sezession (Beckmann, Liebermann, Corinth, Kollwitz, Slevogt u.a.m.) kamen daher auch nicht aus der Akademie, sondern entwickelten sich unabhängig davon, parallel oder sogar im Protest gegen den etablierten akademischen Kunstbetrieb.
Gussows Bild „Waschung der Venus“ (Bild 4) ist der satirisch-kritische Ausdruck dieser Position des Malers, bevor er Berlin verließ (1882) und an die Akademie nach München ging; dort war man weit fortschriftlicher, auch in kunstpolitischer Hinsicht: Frauen wurden in Berlin erst ab 1919 zum Kunststudium zugelassen, in München und anderswo erheblich früher.
In die Gussow-Villa zog danach der Kaufmann A. Bergmann und die Erste Deutsche Fein-Garn-Jute-Spinnerei Aktien Gesellschaft (gegründet 1885) ein. Das Bild der Villa (Bild 5, weiter unten) wird sich dadurch nicht verändert, die Idylle dadurch nicht gestört worden sein.
Die Idylle in der Ulmenstraße war vermutlich ähnlich, der Baubeginn ebenfalls, auch wenn sich die Anwohner unterschieden: Der allererste Eigentümer ist in Nr. 1 der Rentier Carpentier (ab 1878 bis 1881, alle anderen Parzellen sind entweder noch Bauplätze oder Holzlager) und ab 1882 der verwitwete Geheime Oberregierungsrat Coeppert. Dessen Untermieter war für einige Zeit der Fabrikant Rudolph Rütgers, dessen Vater an der Kurfürstenstraße eine Riesenvilla hatte, (s. mittendran vom 30.5.2021). Der Hof- und Ratsmaurermeister Jacobs besaß die Nr. 2, ein weiterer Maurermeister namens Netzung die Nr. 3, der Fabrikbesitzer Blume die Nr. 5 und der Buchhändler Müller-Grote die Nr. 6. Einzig die Nr. 4 fällt auf, das Maison d`Orange, dessen Eigentümer, die französische Kolonie, Friedrichstraße 129 als Adresse angegeben hat; hier sind zwischen 4 und 8 Personen im Adressbuch gelistet. Es gehört der französischen Gemeinde von Berlin, die dieses Grundstück 1883 für 60.000 Mark von Kielgan gekauft hatte (4) und darauf ein von Adolf Schaum entworfenes Wohnhaus errichtet hatte; dessen Geschichte soll zu einem späteren Zeitpunkt erzählt werden. 1910 kaufte der Verleger Dr. Franz Ullstein (1869-1945) das Haus und ließ es umbauen. Seitdem heißt das Haus Villa Ullstein, und es steht unter Denkmalschutz.
Und wer war Ullstein? Leopold Ullstein (1826-1899) aus Fürth kam 1855 nach Berlin und gründete hier eine Papiergroßhandlung. Im Zuge seines politischen Engagements für die liberale Fortschrittspartei kaufte er 1877 das Neue Berliner Tagblatt, wandelte es in eine Abendzeitung um und vereinigte sie 1878 mit der Berliner Zeitung, die er hinzugekauft hatte. Und schließlich: 1894 übernahm er die Berliner Illustrierte Zeitung, die er zur bedeutendsten Wochenzeitung weiterentwickelte, und rief die Berliner Morgenpost ins Leben. Als er starb, führten seine fünf Söhne dieses Presseimperium weiter und bauten es 1903 zum Buchverlag um, erweiterten aber auch das Pressegeschäft – die BZ am Mittag (1904) wurde das erste Boulevardblatt Deutschlands.
Und das Ganze spielte sich weitgehend in der Friedrichstadt an, der ab 1730 realisierten Stadterweiterung Berlins, in der es zur Ansiedlung vieler Immigranten aus Frankreich, Böhmen, der Schweiz und Salzburg kam. Die Anfänge des Ullstein-Imperiums waren 1888 in der Kochstraße (heute: Rudi-Dutschke-Str.), 1891 war die Ullstein-Druckerei in der Markgrafenstraße, 1893 ein weiteres Gebäude in der Charlottenstraße, und so blieb es bis nach 1900; in dieser Zeit wohnten die Söhne mit ihren Familien an unterschiedlichen Orten Berlins, in Matthäikirchstraße, der Magdeburger Straße, in der Potsdamer Straße. Ab 1908 waren dann die Druckerei und der Hauptsitz der Firma der ganze Straßenblock Kochstraße 22 bis 25 (zwischen Charlotten- und Markgrafenstraße). Das noch heute imposante Ullsteinhaus am Marienhofer Damm 1-3 in Tempelhof wurde dagegen erst in den Jahren 1925 bis 1927 gebaut, vom gleichen Baumeister Egon Schmoll, der auch den Borsigturm im Wedding gebaut hatte – Backstein- oder Klinkerexpressionismus heißt der Stil. Hier waren dann sowohl Druckerei als auch Verwaltung.
Sohn Franz Ullstein kaufte das Maison d `Orange 1910 und ließ es 1911 und 1929 in eine neoklassische Villa umbauen (5), unter Leitung der Architekten Lessing und Garbe; dort wohnte er bis 1938. Nach der Machtübernahme 1933 wurde der Ullstein-Verlag von den Nationalsozialisten zerschlagen, die Villa wurde, da Ullstein jüdisch war, 1938 zwangsenteignet, die Ullsteins emigrierten – danach residierte in der Villa in der Ulmenstraße die Vertretung des Landes Sachsen in der Reichshauptstadt. Auch in die anderen Villen zogen Institutionen ein: in Nr. 2 das Schutzpolizeiabschnittskommando Tiergarten, in Nr. 3 die Deutsch-Italienische Gesellschaft e.V., und in Nr. 5 das Deutsche Institut für Außenpolitische Forschung – sic transit gloria mundi.
Neben den 10 Villen in der Ulmen- und der Buchenstraße gab es noch vier weitere Villen entlang dieses oberen Teils der Derfflingerstraße, die Hausnummern 8 bis 11.
Und immer wurde neu gebaut und wieder abgerissen: „Die von Schwatlo [Baumeister mit eigener Villa Ecke Derfflingerstraße Ecke Kurfürstenstraße] an den Rentier Karl Wilhelm Richter veräußerte Parzelle Derfflingerstraße 11 wurde erst 1879 bebaut. Nachdem das von den Eigentümern 1878 geplante dreigeschossige Miethaus trotz des gerichtlichen Einschreitens der Nachbarn genehmigt und mit dem Bau bereits begonnen wurde, brachte 1879 eine einstweilige Verfügung den bis zur dritten Balkenlage fortgeschrittenen Bau zum Stillstand und führte im selben Jahr zum Abbruch. Ende 1879 wurde daraufhin mit dem Bau eines zweigeschossigen Wohnhauses begonnen, welches 1880 fertiggestellt, aber bereits 1889 wieder für einen Neubau abgerissen wurde … Franz Schwechten, der … durch den Bau des Anhalter Bahnhofs (1891-1895) berühmt geworden war, wurde 1889 mit dem Bau der letzten Villa … beauftragt. Auf dem Grundstück in der Derfflingerstraße 11 wurde die bestehende, erst neun Jahre alte Villa abgebrochen und mit dem Bau eines zweigeschossigen Wohnhauses mit Sandsteinfassade begonnen“ (6), die Villa Bernary, fertiggestellt für den Bankier Victor Benary (1851-1912) um 1890 (Bild 5).
Und was die Baumeister nicht geschafft haben, hat 50 Jahre später der Krieg erledigt: Von den 14 Villen standen nach dem Ende des Krieges nur noch zwei, die Ullstein-Villa (s. oben) und die Villa Mahlzahn (Derfflingerstraße 8, früher Nr. 9). Die Mietshäuser auf der gegenüberlegenden Seite der Derfflingerstraße haben dagegen die Bombennächte fast alle überstanden – gibt es doch so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit?
Literatur:
- Christian Velder. 300 Jahre französisches Gymnasium Berlin. Nicolai Verlag, Berlin 1989
- https://de.wikipedia.org/wiki/Scheibler_%28Unternehmerfamilie%29
- Kapitel 2 in: Paul Enck, Gunther Mai, Michael Schemann. Die Lüderitz-Familie. Geschichten und Geschichte aus drei Jahrhunderten. Hayit Verlag, Köln 2021.
- Eduard Muret. Geschichte der französischen Kolonie Brandenburg-Preußen unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Gemeinde. Aus Veranlassung der zweihundertjährigen Jubelfeier am 29. Oktober 1885. W.Bürgenstein, Berlin, 1885,
- Christian Ferber. Hundert Jahre Ullstein. Ein Bilderbuch. Ullstein Verlag, Berlin 1977
- Constanze Hornauer. Das Tiergartenviertel als Villenvorort bis zum Beginn des 1. Weltkriegs. In: Internationaler Wettbewerb Wohnpark am Lützowplatz. Internationale Bauausstellung Berlin 1984. Eigendruck, Berlin 1980, S.108ff