Walter Benjamin
am Magdeburger Platz

Gastbeitrag von Jörg Hafkemeyer

Zwei alte Häuser sind auf dieser Seite des Magdeburger Platzes noch übrig. Die Nummer 3 und die Nummer 2, der Rest der Neubauten ist trist.

Magdeburger Platz Nr. 4 heute                  Foto FP

Die Mitte des Magdeburger Platzes fantasielos eingezäunt. Die hölzernen Sitzbänke brechen auseinander … Straßenlaternen sind kaputt. Ein naher Platz. Ein Blick in ferne Zeiten … Ein Kind, ein Jugendlicher, läuft durch die Genthiner Straße, die Lützowstraße, über Brücken in den Tiergarten, zur Siegesssäule. Es sind die Jahre vor dem ersten Weltkrieg. Eine herrschaftliche Wohnung in einem großbürgerlichen Viertel am und rund um diesen Magdeburger Platz. Hier, Nummer 4, wohnt das jüdische Ehepaar Benjamin mit seinen drei Kindern Dora, Georg und Walter. Von Walter Benjamin stammen die unnachahmlichen Skizzen „Berliner Kindheit um 1900“, die Jahre vor dem großen Krieg und der schrecklichen, elenden Nachkriegszeit.

Walter Benjamin schreibt: „In jene Kindheit ragten damals noch die Tanten … Zu diesen Wesen zählte Tante Lehmann. Ihr guter norddeutscher Name bürgte für ihr Recht, ein Menschenalter den Erker zu behaupten, unter dem die Steglitzer in die Genthiner Straße mündete. Die Ecke zählt zu denen, die den Wandel der letzten 30 Jahre kaum berührte.“ Die Ecke gibt es nicht mehr, das Haus der Benjamins am Magdeburger Platz auch nicht. Die Erinnerungen sind fast alle weg, auch bei fast allen, die heute hier leben. Tante Lehmann vor dem ersten Weltkrieg war das lebende Gedächtnis. „Die Tante wusste die Verschwägerungen … die Familiennamen der Vieh- und Getreidehändler, die im Märkischen und Mecklenburgischen gesessen hatten. Nun aber waren ihre Söhne und vielleicht schon Enkel hier im alten Westen heimisch“. Tante Lehmann in ihrem Erker in der Genthiner Straße wusste von ihnen allen und alles.

Der junge Walter, gut 14 Jahre alt, erkundete seine Umgebung, die Lützowstraße, den Kanal, „in dem das Wasser doch so dunkel und so langsam trieb, als sei es mit allem Traurigen auf du und du… Umsonst war jede seiner vielen Brücken mit einem Rettungsring dem Tod verlobt … Für das Unglück war überall vorgesorgt, die Stadt und ich hätten es weich gebettet, aber nirgends ließ es sich sehen. Ja, wenn ich durch die festgeschlossenen Laden in das Elisabeth-Krankenhaus hätte blicken können! Es war mir, wenn ich durch die Lützowstraße kam, aufgefallen, dass manche Laden hier am hellen Tag geschlossen waren. Auf meine Frage hatte ich erfahren, in solchen Zimmern lagen – die Schwerkranken.“

Akademie der Künste, Berlin – Walter Benjamin Archiv, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org

Diese Aufzeichnungen sind ein persönliches Geschichtsbuch. Für sie ist natürlich hier viel zu wenig Platz. Gar kein Platz dafür ist in den örtlichen Kulissen am und rund um den Magdeburger Platz. Der Benjamin-Platz ist in Charlottenburg, nicht weit von da, wo auch die Schule des jungen Walter war. Anders als auf Hans Albers am Lützowufer, auf Marlene Dietrich in der Potsdamer Straße, nichts über die Benjamins am Magdeburger Platz. So fantasielos wie der eingezäunt ist, wurde Walter Benjamin abgelegt.
Irgendwo. Verschwunden. Nichts.

Redaktion

2 Kommentare

  1. Kommentar:
    ein Kommentar zum Beitrag von Jörg Hafkemeier in der Printausgabe Sommer 2023:
    Nach den Berliner Adressbüchern jener Jahre wohnten die Eltern von Walter Benjamin in den Jahren 1892 bis 1895 am Magdeburger Platz 4; als das Walterchen 4 Jahre alt war, zogen sie in die Kurfürstenstraße 154, und als Walter 8 war, in die Nettelbeckstraße 24. Als er 14 war, wohnte die Familie schon 2 Jahre in der Carmerstraße 3 in Charlottenburg – wenn er also die Gegend erkundet hat, war er zu Besuch bei seinen Großmüttern, die beide im Blumeshof wohnten (Hedwig Schönfließ, Blumeshof 12 von 1897 bis 1906; Brunella Benjamin, Blumeshof 8 von 1893 bis 1901). Das schmälert nicht seine literarische Leistung in der „Berliner Kindheit um 1900“, aber die wurde 1938 im Exil geschrieben und konserviert und kondensiert Kindheitserinnerungen, in denen, wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen, die Dinge größer erscheinen als sie waren.
    Herzlichst, Paul Enck

    • Was bitte will der Herr Enck so bemerkenswert bemerken? Walter Benjamin hat hier nicht sein Leben verbracht. Da gibt’s eine Anzahl ähnlicher Kurzaufenthalte berühmter Zeitgenossen, von denen die Örtlichkeit zehrt. Hier hätte der Magdeburger Platz PR gebraucht. Verspielt.

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