Sexarbeit ist so alt wie die Menschheit. Der Straßenstrich im Kurfürstenkiez ist über hundert Jahre alt. Für viele Anwohner wird er unerträglich. Andere sehen es gelassen oder als notwendiges Übel in einer Stadt-Gesellschaft. Wieder andere bemühen sich um Ausgleich……
Nun hat der Bezirksbürgermeister von Mitte seine Thesen dazu klar gemacht. Was meinen Sie dazu?
Thesenpapier des Bezirksbürgermeisters von Mitte, Stephan von Dassel:
Straßenstrich, Verrichtungsboxen und menschenunwürdige Zustände im Kurfürstenkiez
Es gibt kaum ein Thema über das in Berlin so kontrovers diskutiert wird, wie über den Umgang mit dem Straßenstrich in der Kurfürstenstraße. Anwohnende und Gewerbetreibende fordern seit vielen Jahren ein Verbot jeglicher Straßenprostitution. Der Senat lehnt ordnungsrechtliche Einschränkungen der Straßenprostitution ab, weil er dadurch eine Verschlechterung der Gesamtsituation befürchtet. Ein Kompromiss zwischen diesen Positionen scheint unmöglich.
Nun fordert der vom Senat eingesetzte Runde Tisch Sexarbeit die Erprobung von Verrichtungsboxen, um den Vollzug sexueller Leistungen aus dem öffentlichen Raum zu verlagern und die Sicherheit der Sexarbeitenden zu erhöhen.
Die in diesem Zusammenhang begonnene Diskussion bietet die Chance, über das Thema Sexarbeit im öffentlichen Raum neu nachzudenken und Vorschläge zu formulieren, die für Anwohnende und Sexarbeitende gleichermaßen eine Verbesserung ihres Alltags darstellen und so auch in Berlin eine politische Mehrheit finden könnten.
Wenn Positionen so weit wie bei der Betrachtung der Situation in der Kurfürstenstraße auseinanderliegen, ist zuerst ein gemeinsames Verständnis der Ist-Situation notwendig.
Nach zwei Jahren intensiver inhaltlicher, organisatorischer und kommunikativer Auseinandersetzung mit der Kurfürstenstraße halte ich die nachfolgenden Aussagen für Konsens bei allen Beteiligten:
1. Anwohnende und Anrainer*innen der Kurfürstenstraße sind der dortigen Straßenprostitution bisher mit viel Toleranz und Verständnis für die Notlagen der dortigen Sexarbeitenden begegnet.
2. Männer fragen in der Kurfürstenstraße sexuelle Dienstleistungen zu einem so geringen Preis nach, der den offenen und würdelosen Vollzug bedingt und sexdienstleistende Frauen zwingt, sexuelle Dienstleistungen als Massengeschäft vorzunehmen, um ein Mindesteinkommen zu erzielen.
3. Der seit Langem existierende Straßenstrich entlang der Kurfürstenstraße hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert und weist aktuell folgende Merkmale auf:
- seit der Freizügigkeit für Arbeitnehmende aus Ost- und Südost-Europa stellen diese den Großteil der Sexarbeitenden im Kurfürstenkiez
- es gibt einen Sextourismus aus Deutschland und dem Ausland zur Kurfürstenstraße, da die Kurfürstenstraße offensiv im Netz als Ort für Billigsex beworben wird
- hinter der Organisation der Sexarbeit liegen zum Teil kriminelle Strukturen (Menschenhandel, finanzielle Ausbeutung, Zwangsausübung)
- der Anteil der Sexarbeitenden, die über einen langen Zeitraum im Kurfürstenkiez arbeiten, nimmt ab
- ein hoher Anteil der Sexarbeitenden ist suchtkrank oder an sexuell übertragbaren Infektionen erkrankt
- ein hoher Anteil der Sexarbeitenden tut dies aus existentieller wirtschaftlicher Not (Armutsprostitution)
- die „betreuenden“ Männer der Sexarbeiterinnen sind im öffentlichen Raum im Kurfürstenkiez deutlich wahrnehmbar und beeinflussen das Sicherheitsgefühl der Anwohnenden negativ
- nur eine Minderheit der im Kurfürstenkiez Sexarbeitenden erfüllt die Anforderungen nach dem Prostituiertenschutzgesetz und hat sich gesundheitlich und allgemein beraten lassen und als Sexarbeitende angemeldet
- nur eine Minderheit der im Kurfürstenkiez Sexarbeitenden lässt sich regelmäßig gesundheitlich untersuchen
- Orte im Kurfürstenkiez, an denen der sexuelle Vollzug unbemerkt von der Öffentlichkeit stattfinden kann, haben sich verringert und werden weiter weniger
- sexueller Vollzug findet teilweise offen und in unmittelbarer Nähe der Wohnungen von Anwohnenden oder in der Nähe der dortigen sozialen Infrastruktur statt, so dass sich teilweise auch Kinder und Jugendliche dem nicht entziehen können
- es existieren ein motorisierter Suchverkehr der Freier, Anbahnungskommunikation und Kommunikation zwischen den Sexarbeitenden bzw. mit den Anwohnenden, die das übliche städtische Niveau an Lärm und „Rohheit“ auf der Straße überschreiten
- der Kurfürstenkiez ist in Folge der dort ausgeübten Sexarbeit überdurchschnittlich verschmutzt, auch mit Fäkalien
- der Senat und die Bezirke Tempelhof-Schöneberg und Mitte finanzieren Maßnahmen zur sozialen und hygienischen Verbesserung der Situation vor Ort, die die Probleme vor Ort vermindern, aber bisher nicht nachhaltig lösen konnten.
4. Berlin und Rostock sind die einzigen bundesdeutschen Großstädte, die nicht über ein Sperrgebiet verfügen. (Rostock hat trotzdem keinen Straßenstrich, da die Stadt hat nach der Wende eine Kooperation mit einem Bordellbetreiber geschlossen und so Sexarbeit in Bordelle gebracht und auf der Straße verhindert hat.)
5. Verrichtungsboxen existieren nur in Städten, die über Sperrgebiete verfügen.
6. Sperrgebiete lösen die im Zusammenhang mit Straßenprostitution vorhandenen Probleme nicht umfassend, es droht eine Verdrängung in Stadtgebiete, die bisher von Straßenprostitution nicht betroffen waren
7. Bordelle in einem vom Prostituiertenschutzgesetz verlangten Standard schützen Frauen besser als dies auf sog. Straßenstrichs möglich ist, eine Existenzsicherung durch Sexarbeit ist dort würdevoller und leichter zu erzielen.
8. Verrichtungsboxen, die nicht für Autofahrer geeignet sind, können die benannten Probleme nur teilweise lösen, weil eine erhebliche Anzahl der „Freier“ mit dem PKW in den Kurfürstenkiez fährt.
Folgende Aspekte werden nach meiner Wahrnehmung zu wenig wahrgenommen bzw. ausgeblendet:
1. Ein hoher Anteil der Sexarbeitenden im Kurfürstenkiez (mindestens 50 Prozent) tut dies, weil die Frauen durch „betreuende“ Männer bzw. die dahinter stehenden Strukturen dazu gezwungen wird.
2. Die Sexarbeitenden in der Kurfürstenstraße sind laut der Gewaltschutzambulanz der Charité erheblicher und täglicher Gewaltanwendung von Freiern und Zuhältern/“Betreuern“ ausgesetzt, nur ein sehr kleiner Teil der Gewaltanwendungen wird von den Sexarbeitenden angezeigt.
3. Der Anteil der Sexarbeitenden, die erst im Rahmen ihrer Tätigkeit in Deutschland/ in der Kurfürstenstraße suchtkrank werden oder deren Suchterkrankung in Deutschland/ in der Kurfürstenstraße sich massiv verschlimmert ist hoch, sprich: die Zustände in der Kurfürstenstraße machen viele Sexarbeitende suchtkrank.
4. Der Anteil der Sexarbeitenden, die erst im Rahmen ihrer Tätigkeit in Deutschland/in der Kurfürstenstraße an HIV oder anderen sexuell übertragbaren Infektionen erkranken, ist erheblich.
5. Die ehrenamtlichen und der vom Senat und den Bezirken Tempelhof-Schöneberg und Mitte finanziell geförderte Träger erreicht nur einen Teil der Frauen, viele der in der Kurfürstenstraße arbeitenden Frauen wollen oder dürfen die Hilfsangebote nicht nutzen.
6. Zuhälter/Betreuer der Sexarbeiterinnen lassen „ihre“ Frauen die Hilfsangebote nutzen, weil sich dadurch ihr Zustand/ ihre Gesamterscheinung verbessert und sie somit für die Freier attraktiver werden – die staatlich finanzierte Hilfe für die Sexarbeitenden führt damit auch zu höheren Einnahmen bei den Zuhältern/ Betreuern der Frauen.
7. In keiner deutschen Stadt gibt es eine derart hohe Belastung von Anwohnenden, Gewerbetreibenden und Einrichtungen der sozialen Infrastruktur im Zusammenhang mit Sexarbeit wie im Kurfürstenkiez.
8. Sofern die Nutzung von Verrichtungsboxen freiwillig ist und nur als zusätzliches Angebot für den sexuellen Vollzug wahrgenommen wird, verbessert sich die Situation der Sexarbeitenden und der Anwohnenden im Kurfürstenkiez im besten Fall marginal.
Schlussfolgerungen:
1. Die aktuelle Situation ist für die Frauen im Kurfürstenkiez menschenunwürdig. Durch die Akzeptanz des Ist-Zustandes duldet und befördert das Land Berlin Zwangsprostitution, Gewalt gegen Frauen und Drogensucht von Frauen in existentieller Notlage.
2. Den Anwohnenden (insbesondere Familien) sowie den Anrainern sind die aktuellen Verhältnisse nicht länger zuzumuten.
3. Die vom Land Berlin finanzierten Hilfsangebote sind nicht in der Lage, die menschenunwürdige Situation der Frauen grundsätzlich zu ändern.
4. Von der öffentlichen Hand kontrollierte Verrichtungsboxen können die Arbeitsbedingungen, insbesondere die Sicherheit der Frauen, verbessern und die negativen Folgen der Prostitution für das Wohnumfeld vermindern.
5. Verrichtungsboxen bringen nur dann eine Verbesserung der Gesamtsituation, wenn sie auch mit PKW nutzbar sind und eine andere öffentliche Praktizierung der Sexarbeit durch eine Sperrgebietsverordnung eingeschränkt wird.
6. Sofern es im Kurfürstenkiez/ Bülowstraße keine geeigneten Orte für Verrichtungsboxen gibt, müssen in der Stadt besser geeignete Orte dafür gefunden, z.B. der Zentrale Festplatz im Wedding – allerdings schlecht erreichbar – oder Park- und Abstellflächen am Flughafengebäude Tempelhof.
Die Diskussion um die Kurfürstenstraße krankt daran, dass viele politisch Verantwortliche die Situation vor Ort nicht kennen. Wer sich zur Situation vor Ort äußert, sollte die Situation vor Ort kennen – ich lade daher alle politisch Verantwortlichen zu einem Nachtspaziergang ein.
Es klingt fast respektvoll, wie inzwischen über Prostitution gesprochen und geschrieben wird. Und die Illustration zum Beitrag romantisiert das Thema beinahe. Dabei ist dieses sogenannte „älteste Gewerbe der Welt“ ein von Unterdrückung und Ausbeutung geprägtes und unterstütztes schmutziges Geschäft. Und der Inbegriff menschlicher Unfreiheit und Unterdrückung.